Ralf Homann on Fri, 30 Jul 1999 21:07:05 +0200 (CEST)


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<nettime> art of campaigning - censored text



The following text about 'art of campaigning' was censored by 'id-verlag',
Berlin/Germany. The text is a montage of texts from Renée Turner, Geert
Lovink, Ralf Homann and Kurt Grunow and was originally made for the
workbook of the campaign 'kein mensch ist illegal / no one is illegal', to
force the debate in this antirassistic campaign [www.contrast.org/borders]
about the function of art. In an exhibition in November '99 in Stuttgart
we will discuss the topics further on.  Contact:
ralf.homann@medien.uni-weimar.de or other authers.  The text is mixed
German and English. 

**

Im Juni 1997 trafen sich im Rahmen der dokumenta X Vertreter
antirassistischer Gruppen aus dem autonomen, kirchlichen und
gewerkschaftlichen Spektrum, von landesweiten Fluechtlingsraeten und von
lokalen Unterstuetzungsprojekten fuer Fluechtlinge und Migrantinnen. Sie
verabschiedeten den Apell 'kein mensch ist illegal', die inhaltliche
Plattform der Kampagne. Der Ort dieser Zusammenkunft war der Hybrid
Workspace, ein Kunstraum in der Kasseler Orangerie. Anschliessend
arbeiteten politische Aktivisten und Kuenstler, ueberwiegend aus
Deutschland und Frankreich, 14 Tage lang im Hybrid Workspace, um die
Kampagne 'kein mensch ist illegal' zu starten. Sie nutzten auf Einladung
der dokumenta X den Hybrid Workspace als temporaeres Labor mit dem Ziel
erste Aktionsformen zu testen, Videos und Radioprogramme zu entwickeln,
die Mailinglist Coyote-L und die Website der Kampagne
(www.contrast.org/borders) zu installieren und 'kein mensch ist illegal'
durch Pressearbeit, Ausstellungen und Veranstaltungen auf der dokumenta X
und darueberhinaus bekannt zu machen. Zwei Jahre nach Start der Kapagne
sollte in einem Handbuch 'kein mensch ist illegal' der aktuelle Stand von
Debatten und Aspekte praktischer Unterstuetzungsarbeit dokumentiert werden
(ID-Verlag ISBN 3-89408-087-6). Der hier veroeffentlichte Text war
urspruenglich fuer dieses Handbuch von einem kleinen Autorenkollektiv
erstellt worden und nimmt Bezug auf das, was in Plena, Veranstaltungen und
Gruppen zum Thema 'Kunst der Kampagne' immer wieder diskutiert wurde.
Dieser Text wurde jedoch vom Verlag zensiert.  Mit dieser
Veroeffentlichung kann er in das Handbuch wieder eingelegt werden (etwa ab
Seite 134). 

**

Gestartet auf der documentaX verbindet die Kampagne 'kein Mensch ist
illegal' nicht nur radikalen politischen Anspruch und taktisches
Medienverstaendnis, sondern bedient sich immer wieder gezielt des
Kunstbetriebes, um Aufmerksamkeit anzuziehen, Rueckendeckung zu erhalten,
aber auch um aesthetische Debatten zu fuehren. Dieser Text ist eine
Montage (1) aus Redemanuskripten, Theorie-Essays und einer gekuerzten
Diskussion via e-mail zwischen Renée Turner (Stichting de
Geuzen/Amsterdam), Ralf Homann (cross the border/Muenchen) und Kurt Grunow
(Oberwelt e.V./Stuttgart). 

[networking and socializing] Alle Gruppen, die mit ‚kein mensch ist
illegal' sympathisieren, koennen die fiktive Identitaet der Kampagne
nutzen. Das heisst, dass alle Bemuehungen um Stellvertreterpositionen mit
dem Ziel eines geschlossenen Erscheinungsbildes oder klassische Strategien
der Oeffentlichkeitsarbeit ziemlich ueberholt sind und in den Hintergrund
treten. Sie werden durch den Reiz getrennter und unmittelbarer Aktionen,
den Charme unerfuellter Traeume und durch ueberraschende Kooperationen
ersetzt. Ein Beispiel ist die Geschichte des Kampagnenlogos, das als
Nebenprodukt aus den Arbeiten an den ersten Websites entstand: Es gibt
keine originaere Fassung, sondern hunderte von Versionen
unterschiedlichster Aufbereitung, die von zahllosen HerausgeberInnen und
deren Software neu modelliert wurden. Oder das erste Video, das im Hybrid
Workspace der documenta X entstand: Waehrend viele eine ernste Umsetzung
des schwierigen Themas erwarteten, beschlossen wir, zufaellig ausgewaehlte
Fernseh- oder Kinofilmsequenzen neu zu ordnen zu kopieren, einzufuegen und
mit eigenen Aufnahmen zu mischen. Mittlerweile sind im Rahmen der Kampagne
drei Zeitungen mit einer Auflage von mehr als hunderttausend Exemplaren
veroeffentlicht worden; es entstanden zwei Mailing-lists und hunderte von
Websites; wir druckten T-Shirts, Plakate, abertausende Aufkleber und
Flugblaetter und haben viele Stunden Radioprogramm und ungefaehr ein
Dutzend Videobaender produziert. 

Rueckblickend betrachtet koennen wir sagen, dass 'kein mensch ist illegal'
auf drei Grundlagen basiert: Die 'politische Glaubwuerdigkeit' dutzender
lokaler Gruppen und Netzwerke in jeder Grosstadt der Bundesrepublik, die
'militante Tradition' aus den sozialen Bewegungen der siebziger und
achtziger Jahre; und nicht zuletzt lebt die Kampagne von einer
Aufgeschlossenheit, die es ermoeglicht, zwischen Medien- und
Kunstbereichen, zwischen popkulturell korrekten und/oder politisch
kodierten Umgebungen zu vermitteln. 

[close the gap] 'Ueberquert die Grenze, schliesst die Luecke!' Das war
einst eine Forderung der Pop-Art. Sie meinte damit in erster Linie "einen
Akt, der den Klassen- und Generationenunterschied ueberbrueckt.  Die
Vorstellung von einer Kunst fuer die Gebildeten und einer Subkunst fuer
die Ungebildeten bezeugt den letzten Ueberrest einer aergerlichen
Unterscheidung innerhalb der industrialisierten Massengesellschaft, die
nur einer Klassengesellschaft zustuende. Weil Pop-Art weiterhin wie seit
Mitte des 18. Jahrhunderts gegen jene anachronistischen Ueberbleibsel
Krieg fuehrt, ist sie subversiv, ungeachtet ihrer erklaerten Absichten,
und eine Bedrohung fuer alle Hierarchien, weil sie wider die Ordnung
ist."(2) Das, was da Ende der 60er Jahre als Kampf gegen den Anachronismus
der Klassengegensaetze propagiert worden ist, egal ob es in der Analyse
und in der Konsequenz richtig war oder falsch, ist heute selbst ein
Anachronismus. Der alte Pop ist tot. So wie Koenige tot sind.  Wer das
nicht glauben mag, der oder die sei auf die Unterschriftenaktion "gegen
den Doppelpass" verwiesen, die sich ebenfalls klassischer
Counter-Culture-Methoden bediente; fehlte nur noch, dass Edmund Stoiber in
den Hungerstreik getreten waere, um endgueltig klar zu machen, wie sehr
die Konnotierungen aufgeloest sind. Der Verweis auf Bayern ist insofern
ernst gemeint als die Techno-Generation der Erstwaehler brav fuer die CSU
gestimmt hat, um an dieser Stelle jedes Vorurteil, das vom kulturellen
Ausdruck auf die politische Gesinnung schliesst, zu bestaetigen. Oder
genau nicht, denn die Koordinaten stimmen nicht mehr, nicht weil sie sich
veraendert haben, sondern weil das Koordinatensystem weggerutscht ist. The
gap, die Luecke von damals zwischen dem kulturellen Oben und Unten,
verlaeuft heute quer zu den einzelnen widerstaendigen politischen Szenen
und diese kulturellen Brueche bremsen die Handlungsfaehigkeit. Vor Jahren
mag es noch richtig gewesen sein zu sagen, jeder Jeans-Traeger ist mein
Freund und Textilmueslis fremdeln mit Techno-Kids und umgekehrt.
Spaetestens mit Hoyerswerda und den folgenden Pogromen ist das gestorben,
weil die dort handelnden RassistInnen problemlos populaere oder
subkulturelle Outfits uebernehmen konnten. (Umgekehrt wurden rechtsextreme
Denkfiguren im Mainstream anschlussfaehig, wie zum Biespiel der
vermeintliche Zusammenhang von Territorium und Kultur, die Forderung nach
deutschsprachiger Musik gegen den 'wuchernden' Anglo-Pop, die
Remaskulinisierung der Gesellschaft usw.) Die politische Codierung
kultureller Praxen ist nicht mehr eindeutig, die Ordnung nach
nichtkommerzieller oder kommerzieller Aesthetik nicht mehr produktiv. Oder
ganz anders argumentiert: Wer zum Beispiel offensiv kmii-Aufkleber
verbreitet, kann die Erfahrung machen, dass sie verkratzt, veraendert,
kommentiert werden: Von "kein mensch ist illegal" zu "jeder mensch ist
illegal" oder "legal, illegal, scheissegal". Da laesst sich dann noch kurz
spueren, wie bequem dieses alte Koordinatensystem war und wie leicht die
widerstaendige Gebaerde.  Es reichte zu sagen: Wir sind die deutsche
Pop-Art und das Schweigen oder das Reden von dem oder der wird
ueberbewertet... Damit ist eine aesthetische Fragestellung sichtbar: Wie
koennen ohne das gewohnte Koordinatensystem Formen gefunden werden, die
die Luecken ueberbruecken.  Ein Variante der Kunst der Kampagne ist das
Ausfransen: Keine Aesthetik-Kommission, die dem Inhalt formale
Identitaeten zuschreibt oder kontrolliert, was ein richtiger oder falscher
Ausdruck ist, sondern das produktive Aufloesen der Muster, die Suche nach
Faeden, die ueber die Luecken geworfen werden koennen und die Einnahme
eines taktischen Verhaeltnisses. 

[the abc of tactical media/deutsche synchronfassung] Taktische Medien sind
das, was herauskommt, wenn die von der vorherrschenden Kultur
benachteiligten oder ausgeschlossenen Gruppen oder Personen sich der durch
die Revolution in der Consumer-Elektronik verbilligten
Do-it-Yourself-Methoden bedienen und die erweiterten
Verbreitungsmoeglichkeiten wie oeffentlicher Kabelzugang und Internet
nutzen. Taktische Medien berichten nicht einfach ueber Ereignisse, denn da
sie niemals unparteiisch sein koennen, partizipieren sie daran. Das ist
der Punkt, der sie mehr als alles andere von den Mainstream-Medien
unterscheidet. Was macht unsere Medien taktisch? In 'The Practice of Every
Day Life' analysierte De Certueau die populaere Kultur nicht als eine
"domain of texts or artifacts but rather as a set of practices or
operations performed on textual or text like structures". De Certueau
verschob das Hauptgewicht von den Darstellungen wie sie gemeint sind,
darauf wie sie verwendet werden. Mit anderen Worten: Es geht darum, wie
wir als Konsumenten die Texte und Kunstprodukte, die uns umgeben,
benutzen? Und als Antwort schlug er vor: "taktisch". Das ist ein weit
kreativerer und rebellischerer Ansatz, als er je vorher vorgestellt worden
ist. De Certueau beschrieb den Prozess der Konsumption als ein Set von
Taktiken, durch die die Schwachen das Starke gebrauchen. Er kennzeichnete
die rebellische BenutzerIn (eine Bezeichnung, die er gegenueber
VerbraucherIn oder KonsumentIn bevorzugte) als taktisch und die anmassende
ProduzentIn (darunter fallen fuer ihn AutorInnen, ErzieherInnen,
KuratorInnen und RevolutionaerInnen) als strategisch.  Diese Dichotomie
erlaubte De Certueau, einen Wortschatz von Taktiken auszudifferenzieren,
der reich und komplex genug war, um eine unterscheidbare und
wiedererkennbare Aesthetik zu bilden. Eine existentielle Aesthetik. Eine
wildernde Aesthetik des Tricksens, des Lesens, Sprechens und Schlenderns,
des Einkaufens und Wuenschens:  Gescheite Tricks, die Schlauheit der
JaegerIn, ueberraschende Manoever, polymorphe Situationen, spassige
Entdeckungen, poetisch wie militant. 

[e-mail-diskussion: stichting de geuzen/oberwelt e.v./cross the border]
[ralf homann] Haben KuenstlerInnen, die sich an politischen Kampagnen
beteiligen, die Rolle von Dienstleistern, sind sie sozusagen fuer die
Plakate und alles Visuelle zustaendig, oder sind KuenstlerInnen in
Kampagnen ein eigener Zusammenhang? Mit einem Beispiel aus der Popmusik: 
Spielen Bands oder DJs auf politischen Veranstaltungen die Rolle eines
Werbetraegers fuer den jeweiligen Inhalt, sind sie
Mobilisierungs-HelferInnen oder ist nicht vielmehr Musik deren Art und
Beitrag zur Debatte? 

[renée turner] I don't believe that the role of artists and designers is
to simply organise the visuals. For example: When you look at the work of
‚Ne pas plier' you quickly see that they work with and not just for
people. This radically alters the status of the commission because it
means that all parties involved share a mutual interest and run the risk
of a mutual loss or gain. 

[kurt grunow] Ich denke, wir sollten versuchen, Unterschiede zu sehen
zwischen dem, was KuenstlerInnen machen, wenn sie Gestaltungsauftraege im
Dienstleistungsbereich uebernehmen und dem, wenn sie als KuenstlerInnen
taetig werden und die Sache mit dem Autonomieanspruch beginnt, mit dem der
Begriff Kunst wohl untrennbar verbunden ist.  Oberwelt e.V. zum Beispiel,
unser selbstorganisierter Kunstort, hat keine Position zur Kampagne, wir
wuerden sie aber gerne umfassender diskutieren. 

[renée turner] I would hope that when artists and designers participate in
any campaign it is not about creating a ‚hook' because that is the
position of an advertiser. Advertising is a closed circuit, it posits a
rhetorical question to which there is only one answer: Buy Me. Our aim is
to avoid this passive typification of the viewer/reader as consumer. 
Ideally, our goal is to open up a space for dialogue, conversation and the
questioning of convention. 

[ralf homann] Stichwort: die BetrachterIn als Konsument. Teilt Ihr meine
Beobachtung, dass politische AktivistInnen in der Linken sich eher fuer
Kuenste begeistern, die konsumierbar sind wie Video, Film, Musik oder
Party-Ereignisse, und es eher Probleme gibt mit schwerer rezipierbaren
Formen wie der bildenden Kunst oder dem Hoerspiel? 

[renée turner] I don't think this is specifically a right or left wing
propensity. There is generally a false perception that art should be
immediately apprehensible to all at any given time. Of course some ways of
working are more accessible than others and some have a more immediate
impact. But it is crucial to recognise the validity and in fact integrity
of different paces of working and understanding. Modern media have altered
our sense of speed; there is a real drive to acquire information rapidly
and some uses of media just don't translate into that pace. 

[ralf homann] Kunst hat den Ruch in politischen Angelegenheiten
unzuverlaessig zu sein. Verkuerzt gesagt: Von der Linken her der Vorwurf,
dass Kunst nur etwas fuer die herrschenden Eliten sei und von dieser Seite
wiederum, dass Kunst, die sich politisch versteht, Qualitaet vermissen
lasse. Geht Kunst und Politik da zusammen? 

[renée turner] Art and politics can never be separated. We live in a
highly politicised environment, invested interests must always be
negotiated. An aesthetic realm free of these negotiations never existed,
it was simply a Modern myth or wish-image. Every gesture, no matter how
minimal can only be seen within a larger social context. 

[kurt grunow] Beim Lesen der Frage in Deiner mail habe ich mich an den
folgenden Text erinnert, den ich mir vor Jahren einmal gespeichert habe: 
Er stammt von Michael Lingner. Er ist auch fuer mich nicht ohne einen
beissenden Beigeschmack, doch scheint er mir die Sache an einer richtigen
Stelle anzupacken: "Es ist ein wesentliches Kennzeichen autonomer Kunst,
wie sie sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart entwickelt
hat, dass sie, im Unterschied zur traditionellen christlichen oder
hoefischen Kunst, ihre Funktionen und Inhalte selbst erfinden will. Darum
ist innerhalb autonomer Kunst im Grunde 'jeder oeffentliche Anspruch an
das Kunstwerk eine Zumutung', wie es der Hamburger Kunsthistoriker Martin
Warnke sehr rigoros formuliert hat.  Will sich der Kuenstler vor der
misslichen Alternative bewahren, entweder das Thema oder aber die Kunst
und ihre Autonomie aufgeben zu muessen, bleibt ihm nur uebrig, die
Thematik so umzuformulieren, dass sie auch zu einer kuenstlerischen wird.
Als kuenstlerisch erweist sich eine Thematik dann, wenn sie mit
kuenstlerischen Mitteln adaequat zu bearbeiten ist. Was Kunst, wenn sie
sich auf eine ausserkuenstlerische Themenstellung einlassen will, mit den
ihr eigenen Mitteln kann, ist nicht mehr und nicht weniger, als sich zum
Medium der Reflexion ihres eigenen Verhaeltnisses zu dieser Thematik zu
machen."

[ralf homann] Das sehe ich ganz klar als Staerke: Die Ebene der Reflexion,
und zwar mit kuenstlerischen Mitteln, die ja umfassender sind, als Text,
Analyse etc. Frei nach Diedrich Diederichsens Plaedoyer fuer den Pop, der
"Bilder, Stimmungen und Metaphern von Verhaeltnissen hat, und sie so
diskutabel macht, bevor sie abstrakt erfasst sind". So kann Kunst
Vorgaenge aussprechen, bevor sie geschrieben werden koennen.  Ob jeder
oeffentliche Anspruch an ein Kunstwerk eine Zumutung ist, weiss ich nicht,
nur den Verweis auf die vorbuergerliche Kunst finde ich produktiv. Wenn
ich zum Beispiel den kuenstlerischen Anspruch der AA/BO
(AntifaschistischeAktion / Bundesweite Organisation) erlebe (3), dann ist
der fuer die eigene Szene selbstverstaendlich richtig. Aber nur in dem
Sinne, wie auch die hoefische Kunst fuer den Fuersten, oder die religioese
Kunst fuer den Klerus o.k. war: als bildnerische Bestaetigung der
jeweiligen hochgeruesteten Identitaet. Mit einem gewissen Schmunzeln: Zum
Beispiel auch Stalins aesthetisches Problem bei dessen allererster
Mai-Feier im Kaukasus (4), die er mit dem Know How seiner
Priesterausbildung geloest hat. Was vermutlich taktisch konsequent war und
damals wohl sogar eine Brueckenfunktion hatte, weil er an Tradiertem
anknuepfte. Was bei solch sogenannten gesellschaftlichen Anwendungen von
Kunst auf jeden Fall auf der Strecke bleibt, das ist die emanzipatorische
Qualitaet des Autonomie-Anspruchs, der dann ja gerne diskutiert werden
kann, zum Beispiel, weil er als elitaer gelesen wird. 

[renée turner] Elitism is a brush that art is often tarred with and it is
an accusation I find quite wearisome. Most offensive is the fact that the
elitist paradigm relies on a monolithic vision of the art world, a rather
established system of galleries, museums and investors.  Admittedly the
market force is very powerful, but I think it is imperative to acknowledge
that there are many different venues and spaces artists can occupy. 

[the abc of tactical media/originalfassung ohne untertitel] Although
tactical media include alternative media, we are not restricted to that
category. In fact we introduced the term tactical to disrupt and take us
beyond the rigid dichotomies that have restricted thinking in this area
for so long, dichotomies such as amateur vs professional, alternative vs
mainstream. Even private vs public. Our hybrid forms are always
provisional. What counts are the temporary connections you are able to
make. Here and now, not some vaporware promised for the future. But what
we can do on the spot with the media we have access to. Here in Amsterdam
we have access to local TV, digital cities and fortresses of new and old
media. In other places they might have theater, street demonstrations,
experimental film, literature, photography

[e-mail diskussion: stichting de geuzen/oberwelt e.v./cross the border]
[ralf homann] Politik ist zum Teil auf das Feld symbolischer Handlungen
und durch Massenmedien vermittelter Fragestellungen abgewandert. Damit auf
ein Gebiet, fuer das die Kunst besondere fachliche Qualitaeten hat.  Das
Critical Art Ensemble zum Beispiel argumentiert, dass die
Auseinandersetzungen in Nicaragua kaum jemand direkt und unvermittelt
erlebt hat, dennoch war es eine politische Frage und noetig sich zu
verhalten. In diesen repraesentierten Auseinandersetzungen komme der
Kunst, die ja sozusagen eine Art Ausdrucks- oder Repraesentanz-Management
darstellt, eine neue Rolle zu. 

[kurt grunow] Wenn ich das jetzt in der mail lese, denke ich an
Fernsehaufnahmen von allabendlichen Rockkonzerten in Belgrad, ein
Dauerfestival mit frenetisch geschwenkten serbischen Flaggen. Hier sind
auch 'Kuenstler mit besonderen fachlichen Qualitaeten' zugange. 
Aufgefallen sind diese Bilder einfach nur, weil die Festivals der Pop-Aera
stets getragen waren von einer politisch-gesellschaftlichen Haltung, die
in jedem Fall ‚richtig' war - links, oppositionell, progressiv, ebenso wie
auch alle sonstigen politischen Positionen im kuenstlerischen Bereich, so
solche vorkamen, so dass man im Grunde kuenstlerische Aeusserungen
generell als ‚das Gute' identifizierte (also lange vor der Debatte um die
'Boehsen Onkelz'). Laura Cottingham bringt dies auf den Punkt: "Eines der
am weitesten verbreiteten Vorurteile im Umfeld von ‚Kunst' ist, dass sie
‚gut' sei. Das heisst, es ist eine jener Kategorien, die normalerweise
positive Konnotationen verleihen und empfangen. Tatsaechlich erhalten nur
wenige Signifikate in unserer Kultur (in unseren Kulturen) einen so
verbreiteten Beifall wie ‚Kunst', vielleicht mit Ausnahme von 'Babys'."
Von dieser simplen Zuschreibung 'Kunst = Gut' lebt jede Kampagne, die
Kuenstler fuer sich in Anspruch nimmt, egal ob Bankhaus, Supermarkt,
Antifas, Politiker, Faschisten oder sonst wer. Hier ist das Schoene, Wahre
und Gute im Spiel. - Dieser Wert strahlt auf alles, aber auch wirklich
alles ab, was sich damit schmueckt. 

[ralf homann] Das waere jetzt sowas wie Glamour. Unabhaengig davon:  Macht
es Sinn im Kunstkontext zu agieren, weil Themen wie 'kein mensch ist
illegal' in den Massenmedien tabuisiert werden und hier ein offener Raum
existiert, in dem neue Formen und Inhalte erprobt werden koennen? 

[renée turner] Political activism requires specific means for specific
ends, be it petitioning, picketing, camping, documenting, hacking,
cooking, listening etc. Mass media unfortunately is not a sustainably
viable option ...access is quite simply denied... Sure non-governmental
organisations such as Greenpeace have managed to get occasional news
coverage but that is just a nanosecond in relation to today's media
timescale, a blip on the screen of our telecommunications landscape. It is
important to keep in mind the variety of media and sites, physical and
virtual, that can sustain a prolonged concern for various political
issues. These channels are more flexible and able to respond to the
shifting voices and needs within any activist group. 

[ralf homann] Gibt es aus Eurer Erfahrung in politischen Kampagnen eine
Hierarchie zwischen Streetfighters, TheoretikerInnen oder
KuenstlerInnen?(5) 

[renée turner] I don't think there is a hierarchy but there are different
priorities that take and require centre stage at a specific moment in
time. Rather than focusing on who's on top, it is more constructive to
look at there lays established between these forms of research and action,
meaning how these fields can influence each other refining and redefining
the political issues at hand. When you look back at projects by Group
Material, PAD/D (Political Art Documentation and Distribution) or Gran
Fury it is so clear that Foucault's discourse on power had a great deal of
influence directly or indirectly on activist art in America. Or if you
think about the Situationist International, where figures like Guy Debord
consciously plagiarised the work of Marx and Feuerbach inciting and
exciting an entire movement. These exchanges reinvigorated both theory and
practice. 

[close the gap] Aesthetik als offenen Raum zu begreifen, ausfransen zu
lassen und ein taktisches Verhaeltnis einzunehmen, das heisst auch, diese
Freiheit auszuhalten. In doppelter Hinsicht: Wenn versucht wird fuer die
Kunst der Kampagne neue Schachteln zu falten, um die Sache einzupacken und
theoretisch zu ordnen wie zum Beispiel im Zuge der Ausstellung 'Dream
City' in Muenchen (6); oder auf der anderen Seite, wenn der Rekurs auf die
Aesthetik der Betroffenheit beginnt, und auf die nur im eigenen Kontext
funktionierenden Bilder wie in der aktuellen 'A-Clip-Rolle' (7). Die Kunst
der Kampagne ist immer damit konfrontiert, dass sie sich nicht auf einen
gegebenen Verstaendigungs-Kontext verlassen kann, weil ihr Inhalt nicht
hegemonial ist. Selbst ein moralischer Ansatz geht ins Leere, denn
bekanntlich kann ein Mensch gut oder boese sein, schoen oder haesslich,
aber er kann nicht illegal sein.  'Freiheit aushalten' meint auch, dass
die Aesthetik jeweils neu verhandelt werden muss, weil ein Rueckzug auf
geschuetzte Identitaetsinseln kein Ziel mehr hat. So wie die Luecke
zwischen Kultur und Subkultur obsolet ist, so verlaeuft die Grenze auch
nicht mehr zwischen populaerer Kultur und der der Eliten, sondern entlang
der neuen, europaeischen Apartheid: Grenzen sind ueberall dort, wo
Menschen nach Papieren gefragt werden. 

[the abc of tactical media/original ohne untertitel] Tactical media's
mobility connects it to a wider movement of migrant culture. Espoused by
the proponents of what Nie Ascherson described as the stimulating pseudo
science of Nomadism. "The human race say its exponants are entering a new
epoch of movement and migration. The subjects of history once the settled
farmers and citizens, have become the migrants, the refugees, the
gastarbeiters, the asylum seekers, the urban homeless." But capital is
also radically deterritorialized. This is why we like being based in a
building like De Waag, an old fortress in the center of Amsterdam. We
happily accept the paradox of *centers* of tactical media. As well as
castles in the air, we need fortresses of bricks and mortar, to resist a
world of unconstrained nomadic capital. Spaces to plan not just improvise
and the possibility of capitalizing on acquired advantages, has always
been the preserve of ‚strategic' media. As flexible media tacticians, who
are not afraid of power, we are happy to adopt this approach ourselves. 

**
Anmerkungen und Quellen:

(1) Montierte Texte mit Adresse vollstaendiger Fassungen: [networking and
socializing] von Gisela Seidler und Florian Schneider, siehe
www.contrast.org/borders [the abc of tactical media] von David Garcia und
Geert Lovink, siehe www.nettime.org und www.n5m.org (dort auch: the def of
tactical media) [close the gap] von Ralf Homann, siehe
www.kwin.de/freieklasse [stichting de geuzen/oberwelt e.V./cross the
border] virtuelle Gespraechsrunde zwischen Renée Turner, Stichting De
Geuzen, Amsterdam; Kurt Grunow, Oberwelt e.V., Stuttgart; Ralf Homann,
Cross the Border, Muenchen. (2) Leslie A. Fiedler, Ueberquert die Grenze,
schliesst den Graben, 1969. (3) siehe auch: Bernd Langer, Kunst als
Widerstand, Bonn 1997, ISBN 3-89144-240-8. (4) siehe auch: Isaac
Deutscher, Stalin, S. 62, Berlin 1990, ISBN 3-320-01551-6. (5) siehe auch:
‚Der Sammler interviewt den Jour Fix', in Messe2o.k./oekonoMiese machen,
hrsg. von Alice Creischer, Dierk Schmiedt, Andreas Siekmann, Berlin u.
Amsterdam 1996, ISBN 3-931184-02-1. (6) siehe auch: Dream City, Katalog,
hrsg. von Kunstraum Muenchen, Kunstverein Muenchen, Museum Villa Stuck,
Siemens Kulturprogramm; bzw. Astrid Wege in Texte zur Kunst, Juni 1999,
Heft 34. (7) siehe auch: SpringerIn, Seite 40, Band IV, Heft 3, Sept./Nov.
1998, Wien-Bozen, ISBN 3-85356-086-1. 

Weitere Literatur:

'Kunstforum', Band 138, Sept. bis Nov. 1997, ohne Autorenangabe, S.
242-243, Ruppichteroth Kein Mensch ist illegal, Vanessa Barth in 'Die
Beute', Nr. 15+16, Seite 144, Winter 1997, Frankfurt am Main Kunst im
Asyl, Florian Schneider im Feuilleton der 'Sueddeutschen Zeitung' vom
12.3.1998, Muenchen Ueber die Grenze, Alexander Juergs in 'Texte zur
Kunst', Nr. 30, Seite 125, Juni 1998, Koeln Vor der Information, Wien,
ohne weitere Angaben

Impressum:
[die kunst der kampagne/art of campaigning] hrsg. von Kurt Grunow, Ralf
Homann, Geert Lovink, Renée Turner; Mark Luther Verlag, Muenchen, 1999
ISBN 3-931720-13-6

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