Tillmann J.A. on Fri, 3 Sep 1999 23:52:24 +0200 (CEST) |
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<nettime> Avataren |
Der Tag der Avataren Eine Zukunftsvision Von J. A. Tillmann Die Vereinigung aller technischen Medien hatte |berraschende Folgen. Da die Gerdte nicht mehr separat arbeiteten, war die Bedienung nicht mehr ortsgebunden, und man konnte Schnittstellen wie Bildschirme beliebig placieren. Manche Benutzer begn|gten sich mit der Tischplatte, anderen reichten kaum die vier Wdnde, ja nicht einmal die Zimmerdecke, und sie holten sich vom orbitalen Beobachter den rosafarbenen Schwemmsand einer mediterranen Insel als stdndiges Bild auf den sensibilisierten Fu_boden. (Daraus ergaben sich Komplikationen: Mitunter sorgten vor|berziehende Krebse f|r Panik, ein andermal entstand ein Rotgl|hen, weil die Farbkorrektion wegen aufziehender Wolken verr|ckt spielte...) Der Interface-Komfort f|hrte, vor allem bei dlteren Menschen, zu wachsender Isolation und teilweise schweren psychischen Stvrungen. Viele vermochten die Einsamkeit nur zu ertragen, wenn sie sich bestdndig mit lebendigen Bildern umgaben. Nach den |berholten Familienfotoalben war es nun jedermann mvglich, ldngst verstorbene Ahnen oder entschwundene Geliebte in synthetische Bewegungsbilder zu verwandeln. Kultfilmfans durften dank Raumkorrektor f|r immer in der Gesellschaft ihres Schwarms verharren. Und das Realitdtsgef|hl ging weiten Kreisen verloren, weil sie die Seifenopern nicht mehr nur von au_en betrachten, sondern schnell mal in diese oder jene Seifenblase hineinschl|pfen konnten. Positiv wirkte sich aus, da_ jeder infolge der Vereinigung sein eigenes Interface gestalten mu_te, wenn er der Einheitsso_e entgehen wollte. Man mu_te schon gr|ndlich |berlegen, um zu entscheiden, was mit dem Bemutzer zu tun hat; was ihn wirklich betrifft und was es fernzuhalten gilt. Nicht nur die Handhabung, auch die proportionale Representation warf heikle Fragen auf. (Mitunter hatte die Konfrontation mit dem Zerrinnen des eigenen Lebens traumatische Wirkungen.) Der persvnliche Charakter der Interfaces ergab sich - abgesehen von ihrer Konfiguration - dadurch, da_ sie (bei akustischer Steuerung) nur auf die Stimme ihres Besitzers hvrten beziehungsweise (bei manueller Bedienung) nur durch Handauflegen erreichbar waren. Die wahre Revolution der Interfaces begann hingegen erst, als die Avataren in Erscheinung traten. Sie manifestierten sich im Geist des Interface, und zwar in einem (mit dem FIGURA-Programm beliebig formbaren oder aus Bildnissen der Personen-Datei synthetisierbaren) Scheinkvrper. Im Avatar vereinigten sich die besten Eigenschaften einer begnadeten Sekretdrin, eines Schutzengels und eines intelligenten Agenten. Er war unschlagbar, wenn es darum ging, eingehende Informationen zu filtrieren, Daten zu erschlie_en und zu betreuen. (Komprimiert, f|r die Filter der Dienstleister unbemerkbar, waren seine hochentwickelten Formen sogar in der Lage, schwindelerregende Datenberge zu durchforsten. So bewahrte er seine Herrschaften vor einer Abstumpfung durch die sogenannten Informationen sowie vor unnvtigen Ausgaben.) Seine evolutive Programmierung ermvglichte ihm nicht nur, etliche Dienstleistungen zu erbringen, sondern auch, dem Entwicklungsstand seiner Herrschaften kontinuierlich zu folgen. Nach einer kurzen Lernphase beherrschte er sogar deren Auswahlaspekte, mehr noch, er extrapolierte deren etwaige Evolution. Diese Gabe basierte auf der stetigen Analyse von Hdufigkeit und Zusammensetzung der Mustern bei den abgerufenen Bildern, den Wvrtern und Tvnen. (Die anfdngliche, auf Wvrter beschrdnkte Selektion - samt der als Grundlage dienenden analytischen Sprachauffassung - mu_te man nach einer Unmenge von Mi_erfolgen aufgeben, um nach komplexeren Kennzeichen zu suchen. Da der Avatar nicht allein der Bildarchitektur und ihrer Entstehung, der Fortbildung von Schl|sselwvrtern und logischen Strukturen, sondern auch der Harmonie der aufgefangenen Tvne und der Entwicklung ihrer Rhythmusformeln folgte, war er obendrein imstande, die Evolution der Gedankenformen effektiv zu fvrdern. Alsbald erlangte er die Fdhigkeit, Mustern selbst wahrzunehmen, was die Effizienz des Suchens vervielfachte Wobei er die Befehle ausf|hrte, konnte er stets eine Auswahl von Ansichten, Wortgeflechten und Tongebilden prdsentieren. Abgesehen von den g|nstigen Ausgangsbedingungen bildete sein Angebot die ndchste Sprosse der in unerschvpfliche Tiefen f|hrenden Trittleiter der Erkenntnis. (Bei ung|nstiger Konstellation und falscher Kalibration boten sie nat|rlich auch der nachteiligen Regression rasante Hilfe...) Der Avatar wurde auch bei der Kontaktpflege unentbehrlich: Da er seine Wahrnehmungen regelmd_ig mit befreundeten Avataren abstimmte, konnte er sich im Falle zu hdufiger \bereinstimmungen oder bedenklicher Abweichungen zu Wort melden und Vorschldge f|r persvnliche Begegnungen unterbreiten. (Dies verhinderte |brigens, da_ die Herrschaften infolge unstimmiger Orientierung kommunikationsunfdhig wurden und da_ ihre breiteste Gesellschaft in ein beziehungsloses Gespinst zahlloser Subkulturen zerri_.) Gleichwohl kam es zeitgleich mit der allgemeinen Verbreitung der Avataren auch zu gefdhrlichen Erscheinungen und sogar zu schweren Unfdllen. Als un|bertrefflich effiziente und flinke Diener wu_ten sie sich unentbehrlich zu machen und wurden so unwillk|rlich Herr |ber ihre Herrschaften, die nicht selten den k|rzeren zogen: Ohne Mitwirkung des eigenen Avatars vermochte manch einer nicht einmal Grundtdtigkeiten durchzuf|hren, und ein paar Tage nach dem Absturz des Systems verhungerte er glattweg. Auch das avatarenbedingte Lethargiesyndrom forderte scharenweise Opfer: Die raumf|llenden, mit dem Realen rivalisierenden Bilder machten direkte Ndhe f|r viele entbehrlich, so da_ sie sich nicht nur das Reisen abgewvhnten, sondern mit der Zeit sogar ihre Gehfdhigkeit einb|_ten. Weniger unmittelbar selbstgefdhrlich war der mentale Wandel bei Individuen mit einem Hang zu Machtmanie: Das Wirken der Avataren hatte ihren Verstand mit dem Gef|hl der Allmacht und dem Irrglaube der Allwissenheit gef|llt. Allerdings hdtte dies auch ohne deren Zutun passieren kvnnen - wie etliche Beispiele aus der prdavatarischen Zeit belegen. # distributed via <nettime>: no commercial use without permission # <nettime> is a moderated mailing list for net criticism, # collaborative text filtering and cultural politics of the nets # more info: majordomo@bbs.thing.net and "info nettime-l" in the msg body # archive: http://www.nettime.org contact: nettime@bbs.thing.net