Patrice Riemens on Mon, 7 May 2012 20:16:25 +0200 (CEST)


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[Nettime-nl] Artikel in TAZ over wonene in de antikraak in Nederland (Duits)


link:
http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=tz&dig=2012%2F05%2F05%2Fa0024&cHash=b4b961829c

05.05.2012
Leben in der Grauzone

PREKARIAT In den Niederlanden kann man erst Hausbesetzer sein und dann
Hausbesetzerschützer - oder auch umgekehrt

VON TOBIAS MÜLLER UND TINO BUCHHOLZ

Hausbesetzerschützerin Ellen lag gerade im Bett, als die Tür aufging. Ein
Mann trat ins Schlafzimmer, und es sah nicht so aus, als wollte er ob des
Anblicks, der sich ihm bot, peinlich berührt kehrtmachen. Für den anderen
Mann, den im Bett, den Ellen gerade erst kennengelernt hatte, war die
Sache klar: "Ich wusste nicht, dass du mit jemandem zusammenwohnst",
stammelte er. "Tue ich auch nicht, das ist der Kontrolleur", brachte Ellen
heraus.

Die 30-jährige Studentin, die ihren echten Namen nicht in der Zeitung
lesen möchte, ist eine von rund 50.000 Menschen, die in den Niederlanden
vorübergehend leerstehende Gebäude bewohnen, um sie vor Hausbesetzern zu
schützen. Sie hat einen speziellen Mietvertrag, den der Vermieter mit nur
vier Wochen Frist kündigen kann und in dem sie zudem zustimmen musste, die
Wohnung jederzeit kontrollieren zu lassen - auch ohne Ankündigung. Zum
Ausgleich ist die Miete sehr günstig. Ellen zum Beispiel bezahlt für ihre
Zweizimmerwohnung in Amsterdam 115 Euro im Monat - ohne Nebenkosten.

Die Niederlande hat traditionell eine starke Hausbesetzerbewegung. Bis vor
zwei Jahren war eine Hausbesetzung sogar nicht einmal verboten, bis
Christdemokraten und Rechtsliberale zusammen mit der rechtspopulistischen
"Partei für die Freiheit" ein entsprechendes Strafgesetz einführten. Bis
dahin wurden Besetzungen nicht strafverfolgt, wenn das betreffende Haus
länger als ein Jahr leer stand.

Weil die Polizei den Vermietern bei Besetzungen (niederländich: "kraaken")
also nicht helfen konnte, schützten die sich, indem sie Billigmietverträge
wie etwa den mit Ellen abschlossen. Diese sogenannten Antikraak-Verträge
sind bei Eigentümern leerstehender Häuser in den Niederlanden immer noch
sehr populär.

Keine Privatsphäre

Das Viertel, in dem Ellen wohnt, ist schmucklos und geprägt vom sozialen
Wohnungsbau. Bald sollen hier neue Eigentumswohnungen entstehen, und bis
es so weit ist, wohnt in jeder der vier Etagen ein "Antikraaker". Wie
lange Ellen bleiben kann, weiß sie nicht. Ihr Mietvertrag heißt offiziell
"Gebrauchs-Leih-Kontrakt", und darin ist ausdrücklich festgehalten, dass
er "keinen Anspruch auf Mieterschutz" gewährt. Antikraak-Verträge
enthalten ein strenges Reglement: Mehr als zwei Wochen Abwesenheit ist nur
mit Zustimmung der Vermieters möglich, Partys, Kinder und Haustiere sind
untersagt. Zudem muss die Wohnung stets ordentlich aussehen, denn die
Bewohner, so wurde Ellen einmal vom Vermieter bescheinigt, "sind unsere
Visitenkarten".

Um deren Zustand zu prüfen, hat der Leerstandsverwalter einen
Wohnungsschlüssel, um jederzeit vorbeizukommen. "Natürlich geschieht das
immer unangemeldet", sagt Ellen. Ein Einzelfall ist sie nicht: Klagen über
Verletzung der Privatsphäre gibt es bei den meisten der etwa 50
Unternehmen, die solche Verträge anbieten.

Das Profiling der Agenturen zielt auf flexible Mittelstandskinder,
Studenten und Kreative. Oft aber verbirgt sich hinter dem Antikraak-Modell
die blanke Not, und so entsteht ein dritter, gänzlich unregulierter
Wohnungsmarkt - der aber trotzdem für viele Wohnungssuchenden attraktiv
ist. Denn für Sozialwohnungen gibt es in den Niederlanden Wartezeiten von
sechs Jahren oder mehr, und der freie Sektor besteht hauptsächlich aus
teuren Eigentumswohnungen.

Vielfach ist Antikraak die letzte Ausfahrt vor der Obdachlosigkeit. Für
Merel zum Beispiel, Mitte 20, die vor kurzem in ein kleines Haus in einem
Arbeiterviertel am Rand von Den Bosch zog. Auch diese Siedlung gehört
einer Wohnungsbaugesellschaft. In den nächsten Jahren regiert hier die
Abrissbirne, doch zuvor ist die Stunde der Antikraak-Agenturen. Merel
wusste nicht, wo sie sonst bleiben sollte. Mit 17 hatte sie schon einmal
als Antikraakerin gewohnt, in einem Bürogebäude, das zum Verkauf stand.
Irgendwann hatte sie die ständigen unangekündigten Besuche satt und lebte
fortan in besetzten Häusern. Sie hat also sowohl als Besetzerin als auch
als Besetzerschützerin gelebt - wie viele Niederländer.

Abel Heijkamp, Sprecher des "Bundes Prekäre Wohnformen", meint: "Dass
Menschen keine vernünftige Unterbringung haben, ist politisches Versagen."
Kommunen, so Heijkamp, entledigten sich ihrer sozialen Verantwortung,
indem sie die Bewirtschaftung von Wohnraum an Antikraakbüros auslagern.
Die Bewohner landen in einer rechtlichen Grauzone, ohne Rechte, aber
durchaus mit Pflichten. Antikraker sind Wachschützer, Hausmeister und
Putzpersonal, nur keine Mieter. Eigentümer und Versicherungen behandeln
derweil die jeweiligen Objekte weiterhin, als stünden sie leer - sie sind
lediglich sich selbst verpflichtet.

Hauswächter gesucht

Camelot Europe ist der Marktführer unter den Zwischenvermietungsagenturen.
Das Unternehmen expandierte bereits vor zehn Jahren nach Belgien,
Großbritannien und Irland, ist seit vergangenem Jahr auch in Deutschland
aktiv und sucht hier "Hauswächter", derzeit hauptsächlich in
Nordrhein-Westfalen. Direktor Remco van Olst hielt Ende letzten Jahres
einen Vortrag über "Proaktive Leerstandsverwaltung - weniger Risiken, mehr
Rendite".

Für Abel Heijkamp liegt die Lösung auf der Hand: "Antikraak muss
abgeschafft werden." Zunächst aber ruft sein Verband dazu auf, der
30-jährigen Tradition der unangekündigten Besuche durch die Kontrolleure
einen Riegel vorzuschieben. Ende April tauschten Antikraaker in mehreren
Städten ihre Wohnungsschlösser aus, um die Vermieter auszusperren. Wie die
reagieren, bleibt noch abzuwarten. Merel würde sich gern beteiligen, macht
sich aber Sorgen um die Folgen. "Ich weiß nicht, wo ich sonst hin soll.
Eigentlich wollte ich nie mehr Antikraak wohnen, aber ich brauche doch ein
Dach über dem Kopf."

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