florian schneider on Thu, 23 Mar 2000 15:55:00 +0100 (CET) |
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[rohrpost] london - munich |
hallo, hoffend, dass es vielleicht auch ein paar altbaiern oder zumindest dort physikalisch angesiedelte menschen auf dieser liste gibt, ein artikel, der morgen leicht gekuerzt in der sueddeutschen zeitung erscheint, ueber einen sicherlich hochinteressanten workshop mit sechs geladenen gaesten aus london am kommenden samstag im literaturhaus muenchen. vielleicht bis dann /fls --- "Von London lernen heißt, siegen lernen." So könnte der Slogan lauten, unter dem fünf Vertreter der Medienkunstszene der britischen Metropole morgen in Rahmen der Frühjahrsbuchwochen auftreten. Bis vor kurzem hätte die Idee zumindest noch Stirnrunzeln hervorgerufen: Ausgerechnet Internetkünstler sollen ihre Heimatstadt auf einer Buchmesse vorstellen? Inzwischen jedoch scheint diese Sorte Tabubruch fester Tagesordnungspunkt von Festivals zu sein, die ihre Sinnsuche im digitalen Zeitalter halbwegs ernsthaft betreiben. London ist der neue Medienmoloch, Hauptstadt des Hypes, und "Konvergenz" das Zauberwort, mit dem nun auch bislang als hasenfüßig verrufene Branchen verlorenes Terrain gutzumachen versuchen. Daß es aber auch ganz anders kommen kann, versprechen Programm und Gäste des vierstündigen Workshops "London - Media City of the Future" am Samstagnachmittag in der Bibliothek des Literaturhauses: Rachel Baker von "irational.org", Matthew Fuller von "I/O/D", Harwood aus der Künstlergruppe "Mongrel", Simon Worthington, Redakteur beim "Mute Magazin", und James Stevens, Gründer des inzwischen ortlosen "Backspace". Die fünf Künstler aus London, die Armin Medosch vom Online-Magazin "Telepolis" zusammengetrommelt und nach München mitgebracht hat, prägen seit Mitte der Neunziger Jahre maßgeblich die unabhängige Netzkultur in der britischen Metropole. Sie stehen für eine Szene, die sich fast vier Jahre lang lose um das Kommunikationszentrum Backspace in einem abbruchreifen Werfthaus am Themseufer oberhalb der London Bridge gruppierte. Hinter der imposanten Holztür im Erdgeschoß tat sich ein Raum auf, der meist vollgestopft mit Computern und Menschen war. Im Stockwerk drüber residierte das DJ-Kollektiv "Ninja Tunes" und kommen konnte jeder und jede - sei es um kurz die e-mail zu checken oder an einem umfangreichen Projekt zu arbeiten. Die oberste Regel lautete: Niemand darf mehr als eine halbe Stunde warten müssen, um an eine Maschine zu kommen. Finanziert durch Mitgliedsbeiträge und mit der enormen Findigkeit des Gründers James Stevens war Backspace das "einzige nicht-kommerzielle Projekt in Großbritannien, das einen öffentlichen Zugang zu technologischen Ressourcen und Internet gewährt." Ziel von Backspace war, die Infrastruktur für eine Community zu bieten, die keinen anderen Hintergedanken verfolgt, als eben eine Community von Künstlern, Aktivisten oder "Slacktivisten" (Stevens) zu bilden. Als gegenkulturelles Modell zum boomenden E-Commerce und zur schleichenden Institutionalisierung der Netzkultur, mit Beharren auf die dezidierte Bedeutung wirklicher Treffpunkte wurde Backspace schon früh zum Mythos. "Eigentlich sollte man meinen, dass London eine blühende Landschaft von Institutionen hat, die sich mit Kunst mit neuen Medien befassen", sagt Armin Medosch, der den Workshop im Literaturhaus moderieren wird. "Doch London ist in dieser Hinsicht Brachland." Neben dem krisengeschüttelten New Media Centre des "Institute for Contemporary Arts" (ICA) gibt es nur noch die Medienkunst-Galerie "Lux-Center" und "ARTEC", ein Projekt, das Jugendlichen Fertigkeiten auf dem Feld der neuen Medien vermittelt und dabei auch eine kleine Netzkunstabteilung unterhält. Die Künstlergruppe "Mongrel" ist aus diesem Projekt hervorgegangen und hat sich seit 1997 auf die Dekonstruktion von Software als Produkt spezifischer kultureller und politischer Machtverhältnisse konzentriert. Ein ziemlich aufschlußreiches Unterfangen - London verdankt seinen Ruf als Melting Pot und Rummelplatz der Kreativen schließlich vor allem der Gabe, Musik- und andere Kampf- und (Über-)lebensstile von Migranten immer wieder in den weissen Mainstream zu integrieren und dem Rest der Welt als Innovation zu verkaufen. In den verschiedenartigsten Kooperationsformen, als "Bündel von Menschen und Maschinen" arbeiten Mongrel daran, Hard- und Software zu entwickeln, die nicht nur den Kontext ethnifizierter und ethnifizierender Produktions- und Rezeptionsbedingungen reflektiert, sondern auch Taktiken und Methoden "der ignoranten und schmutzigen Londoner Straßenkultur zelebriert." Ausdauer und subversive Kreativität, die nicht an der glitzernden Oberfläche des Finanzplatzes London kleben bleibt, das seit neuem auch Metropole des E-Commerce ist - dies ist wohl der Nenner, auf den sich die fünf, auf doch recht unterschiedlichen Feldern operierenden Künstler einigen können. Gemeinsam ist ihnen, sich eine bemerkenswerte, eigenständige und neuartige Ökonomie im Aushalten der alten Widersprüche von Unabhängigkeit und Kommerzialisierung, Kollektivität und Institutionalisierung erkämpft zu haben. Medosch sieht dies aber auch als "Reaktion auf das Fehlen von Qualitäten und Eigenschaften, die die Künstler im brummenden Medienmoloch London nicht gefunden haben und nicht vorzufinden hofften." "Mute", das Magazin der Technokultur, begann im offensiven Widerspruch zur glückseligen kalifornischen Ideologie von "Wired" und hat gute Chancen, das US-Pendant zu überleben. Schon der Titel ist programmatisch: Veränderung findet nicht von selbst statt, sondern muß erst erstritten werden. I/O/D machten Furore, als sie vor knapp drei Jahren einen eigenen Browser entwickelten, der mit der linearen Fortbewegungsweise und der Designhörigkeit der industriellen Navigationswerkzeuge bricht. Herkömmliche Wahrnehmungsweisen durch die zur zweiten Natur gewordenen Bildschirmfenster und daraus resultierende Machtkonstellationen in Frage zu stellen, ist Thema auch neuerer, "spekulativer" Entwicklungsprojekte. Die Parole der Gruppe, die aus einer Diskettenzeitschrift heraus entstanden ist, lautet: "Software is mind control. Get some." Rachel Baker hat sich mit "irational.org" dagegen eine virtuelle Homebase geschaffen, die sich, wenn nicht zufällig in London, auch überall sonst auf der Welt befinden könnte. In Abkehr von der eigentlichen Stadt geht es ihr und den vier weiteren Mitgliedern des losen Zusammenhangs um das Attackieren netz- und technologiegestützter Kontrollmechanismen von einem Ort im postakopalyptischen Nirgendwo aus. Die "Cultural Terrorist Agency", zum Beispiel, importierte und verbreitete im Laufe des letzten Jahres angeblich gentechnisch manipuliertes Saatgut, das den Anbau kommerzieller Produkte der Gentech-Konzerne unmöglich machen soll. Am Ende des Workshops steht eine Debatte mit Münchner Medienkünstlern und Repräsentanten der dort physikalisch angesiedelten Netzkultur: Also Menschen, die sich nach wie vor, wenn, dann meist nur vom Hörensagen kennen. Nachdem Münchner Kulturpolitiker sich in den letzten Monaten in einer Reihe europäischer Städte nach den dortigen Produktions- und Präsentationsmöglichkeiten in Sachen Medienkunst umsahen, stellt der nachmittägliche Workshop nun wesentlich mehr als einen Gegenbesuch dar. Nicht nur, daß der Austausch auf wesentlich breiterer Basis stattfindet, die Gäste aus London dürften auch hervorragende Ansprechpartner in der aktuellen Diskussion abgeben, weshalb der Aufbau unabhängiger, frei zugänglicher und lebendiger Netzwerke Ausgangspunkt aller weiteren Repräsentationstrategien sein muß. Oder anders gesagt: Dass Netzkultur mit dem mutwilligen Zerrbild vom Laptop, das mit der Lederhose konvergiert, genausowenig zu tun hat, wie mit den ehrgeizigen Plänen von einem virtuellen Gasteig für die heimliche deutsche Internethauptstadt, wäre ein wirklich spannender Lerneffekt. Florian Schneider ---------------------------------------------------------- # rohrpost -- deutschsprachige Mailingliste fuer Medien- und Netzkultur # Info: majordomo@mikrolisten.de; msg: info rohrpost # kommerzielle Verwertung nur mit Erlaubnis der AutorInnen # Entsubskribieren: majordomo@mikrolisten.de, msg: unsubscribe rohrpost # Kontakt: owner-rohrpost@mikrolisten.de -- http://www.mikro.org/rohrpost