schilling on Fri, 7 Apr 2000 17:06:12 +0200 (CEST)


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[rohrpost] Warum ich immer wieder verschwinde (Zitty Kolumne)


<Text einer Kolumne in der Zitty, Berliner Programmblatt -th>

Warum ich immer wieder verschwinde  

Im Frühling 1988 stand ich in einer Telefonzelle an der Warschauer Strasse in
Ostberlin (in der DDR waren Telefone rar). Ich wollte einen Freund in Westberlin
anrufen. Nach zahlreichen Versuchen - mit der obligaten Wählscheibe war das bei
der Vorwahl 849 gutes Fingertraining - kam ich endlich durch. Statt des Freundes
meldete sich seine Stimme auf dem Anrufbeantworter. Ich hörte so etwas das
erstemal, war völlig perplex und konnte nach dem "Signalton" nur noch sagen,
dass ich nicht auf eine Maschine sprechen werde. 
Was ich damit natürlich getan hatte. Und zwar doppelt, denn dass die
Staatssicherheit diese Gespräche mithörte, war mir dann auch klar. Aber die
offen angekündigte Speicherung all dessen was ich ab jetzt äussern würde,
erschien mir in dem Moment ungeheuer. Im Gegensatz zum flüchtigen gesprochenen
Wort hatte das etwas Urkundliches, auf Ewigkeiten fixiertes. Der Grad der
Verwantwortung schien mir viel zu hoch, um unvorbereitet zu sprechen.
Schliesslich hatte ich auch keine Erfahrung mit vor die Nase gehaltenen
Mikrophonen.  Alles was ich sagen würde, konnte ja später gegen mich verwendet
werden. Und sei es als Witz über einen freudschen Versprecher. 
Meine Scheu vor Anrufbeantwortern legte sich nach einigem Überlegen und
therapeutischen Gesprächen mit Westberliner Freunden. Ich lernte diese Speicher
auch taktisch zu gebrauchen, als Mittel sich zu produzieren oder zu verbergen,
meine kommunikative Pflicht zu erfüllen ohne in die Pflicht verbindlicher
Zusagen genommen werden zu können etc. Auch mit der Ewigkeit ist es ja nicht
weit her, die Aufnahmen werden bei den meisten nach ein paar Tagen wieder
gelöscht.

Inzwischen ist nicht nur die Mauer gefallen und der Besitz von Telefon und
Anrufbeantworter in ganz Berlin zur Normalität geworden. Mit der Verbreitung des
Internets als Alltagsmedium ist auch das staatliche und geheimdienstliche
Monopol auf die umfassende Speicherung unserer Daten aufgehoben.
"Personalisierung", "Profiling", "Datamining", "one2one Marketing" sind die
Schlagworte einer neuen Branche der Kommunikationsindustrie. Wir werden immer
persönlicher angesprochen und mit Angeboten versorgt, im Austausch gegen immer
mehr Informationen, die wir von uns geben. Das Individuum als Verbraucher,
Antragsteller, Endkunde ist mitteilbar und das hat seinen Wert. Und was zu
Zeiten der Volkszählung noch Tausende auf die Strasse trieb und den Verweigerern
saftige Geldstrafen wert war, machen heute Millionen widerstandslos am
Heimcomputer - den Mikrozensus auf dem Weg zum Konsumentenglück. Wir bewegen uns
in neuen Tauschverhältnissen und der bewusste, taktisch geschickte Umgang mit
den allgegenwärtigen Speichern und kommunikativen Automaten der Unternehmen und
Behörden macht in Zukunft einen Gutteil unseres Wertes aus. Ein ganz
persönlicher Wettlauf zwischen Leben und Archiv hebt an. Die nächsten Monate und
Jahre gehören den Erfindern der Pirouetten, mit denen wir uns den Apparaten
immer wieder entziehen, in die wir uns einschreiben lassen. Vielleicht gibt es
ja nach dem Verschlüsselungsprogramm "Pretty Good Privacy" bald eine Software
für "Pretty Good Identity"? Ich jedenfalls wäre am liebsten ein Ninja-Customer:
wenns sein muss omnipraesent, aber unfassbar. Wer immer wieder verschwindet,
wird umso heftiger gesucht und freudig begrüßt, oder? 

Thorsten Schilling, 39, ist Vorsitzender von mikro, Verein zur Pflege von
Medienkulturen  (http://www.mikro.org) und hauptberuflich Director Corporate
Communications & PR des Berliner Internet Software Unternehmens Subotnic GmbH 
(http://www.subotnic.de).



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