Tilman Baumgaertel on 5 Sep 2000 22:26:49 -0000


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[rohrpost] correspondences


Hallo!

Hier ist eine Rezension des Katalogs "correspondences" ueber den
amerikanischen Künstler Ray Johnson, geschrieben fuers Kunstforum, fuer all
die Mail-Art-Fans auf dieser Liste. I know you're out there...

Gruesse, 
Tilman

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Der berühmteste unbekannte Künstler New Yorks

Seine letzten Briefe warf Ray Johnson in einen Briefkasten in Orient Point
auf Long Island. Es war ein Freitag, der 13., im Januar 1995. Dann fuhr er
mit seinem Auto Richtung Meer und kam dabei durch einige kleine Orte mit so
geheimnisvollen Namen wie Sag Harbor, Shelter Island, North Haven, Baron's
Cove. Die Brücke, von der er sprang, hatte keinen Namen. Zwei Teenagerinnen
sahen zu, als er durch das eiskalte Wasser auf dem Rücken langsam ins
offene Meer hinausschwamm. Einige Stunde später wurde seine Leiche
gefunden, die mit überkreuzten Armen im Wasser trieb.

Seinen Freunde und der Kunstpresse gab der Selbstmord von Ray Johnson
reichen Stoff zur Spekulation. Schon die Namen der letzten Orte, die er in
seinem Leben durchquert hatte, klangen wie seltsamen Anspielungen;
Fingerzeige, die vielleicht - richtig gelesen - eine Erklärung für den
unverständlichen Selbstmord des 68jährigen amerikanischen Künstlers
geliefert hätten. Einen Abschiedsbrief hat Johnson ironischerweise nicht
hinterlassen - und dass, obwohl er als der Begründer der Mail Art galt.
Auch seine letzten Mail-Art-Arbeiten, die er am Tag seines Todes
abschickte, enthalten keine Erklärung für seinen Freitod, keine noch so
subtile Andeutung.

Johnsons enger Freund William S. Wilson schrieb nach seinem Tod: "Ray was
on his way to drowning when I met him in 1956. It just took him 39 years to
do it." Vielleicht muss man alle seine Briefe, seine Mail Art und seine
übrige künstlerische Produktion zusammennehmen, um seinen Selbstmord
erklären zu können; vielleicht muss man alle seine Arbeiten kennen, um den
Grund dafür zu erfahren, dass Johnson mit 68 Jahren schwimmen ging und nie
wieder zurückkam. 

Die Ausstellung "Ray Johnson: correspondences", die im vergangenen Jahr in
New York und in Columbus, Ohio, zu sehen war, hat nicht versucht, Johnsons
komplettes Oeuvre zusammenzusammeln; es wäre auch ein vergebliches
Unterfangen gewesen. Eine vollständige Retrospektive von Ray Johnson wird
es nie geben, weil der Künstler seine Werk so grosszügig und so
unkontrolliert in der ganzen Welt verteilt hat, dass es sich der musealen
Klassifizierung entzieht. 

Seit Ende der 50er Jahre hat Johnson fast jeden Tag eine Handvoll kleiner
Arbeiten mit der Post versandt. Johnson verarbeitete die Post, die bei ihm
einging, in einem Non-Stop-Prozess weiter und versandt sie an seine Freunde
und Kollaborateure. Er verschickte Collagen, Tagebucheintragungen, Drucke,
Handzeichnungen, Skizzen, manchmal sogar richtige Briefe an enge Freunde,
aber auch an flüchtige Bekannte. "The whole idea of the New York
Correspondence School is to receive and dispense with these bits of
information, because they all refer to something else. It is just a way of
having a conversation or exchange, a kind of social intercourse." 

Als Gründer der "New York Correspondence School" hat er Künstler aus der
Fluxus-Szene, aber auch ein immer größeres Netzwerk von Mail Artists in der
ganzen Welt dazu motiviert, ihre Kunst ins Netzwerk des internationalen
Postverkehrs einzuspeisen. Darum ist es besonders ironisch, dass Johnson
ausgerechnet zu der Zeit seinem Leben ein Ende setzte, als das Internet
begann, zu einem neuen Verteilsystem für künstlerische Aktivitäten zu
werden. In seinem Werk tauchen viele Ideen auf, die auch in der Netzkunst
der Gegenwart wieder eine Rolle spielen: das Spiel mit Pseudo-Institutionen
wie dem "Asparagus Club" oder dem "Marcel Duchamp Fanclub", fiktive
Persönlichkeiten wie ein David Letterman oder eine Dead Ant, das Konzept
von artistischer Kooperation über größere Entfernungen, von einer Kunst
ohne materielles Relikt, das Spiel mit den Institutionen der Kunstwelt. 

Obwohl Johnson sich ausdrücklich als Künstler begriff, obwohl seine Arbeit
sich zum Teil ausdrücklich an bekannte Kritiker und Kuratoren richtete,
hielt er immer eine gewisse Distanz zum Kunstbetrieb. "Dear Whitney Museum:
I hate you. Love, Ray Johnson", schrieb er an das Whitney, nachdem eine
Mail-Art-Ausstellung kurz nach der Eröffnung wieder geschlossen wurden,
weil die Museumsleitung die Sammlung von Briefen und Postkarten an ihren
Wänden nicht für Kunst hielt. So hat es selbst nach seinem Tod noch fünf
Jahre gedauert, bis eine Ausstellung wenigstens einen kleinen Überblick
über sein gigantisches Werk erlaubt. Wie als späte Wiedergutmachung wurde
"correspondences" auch im Whitney Museum gezeigt. 

Der jetzt erschienene Katalog (mit Beiträgen von Lucy Lippard, Williams S.
Wilson und den Kuratoren Donna de Salvo und Catherine Gudis) zu der Show
gestattet einen tieferen Einblick in Johnsons Werk, in dem der Werkprozess
wichtiger ist als einzelne Arbeiten. Es zeigt einen Künstler in einem
bisher unkartografierten Grenzgebiet zwischen Fluxus, Konzeptkunst, Pop Art
und Medienkunst. Zu den Bekannte und zeitweiligen Kollaborateuren von
Johnson gehören viele bekannte Künstler der 60er und 70er Jahre: Jonas
Mekas, Joan Jonas, Stan Vanderbeck, Chuck Close, Yvonne Rainer, James
Rosenquist, Al Hansen, Dick Higgins, La Monte Young, Yoko Ono sind einige
der Namen, die immer wieder in seinen Arbeiten auftauchen, und die zum Teil
mit Johnson zusammengearbeitet haben. Mit Nam Jun Paik machte er eine
Installation, die bei der Ausstellung "electronic art II" in der New Yorker
Galerie Bonino gezeigt wurde. Die Kunstkritikerin Grace Glueck von der New
York Times nannte ihn "New Yorks berühmtesten unbekannten Künstler", eine
Einschätzung, die so zutreffend gewesen sein muss, dass sie später wieder
und wieder zitiert worden ist.  

Mit Andy Warhol war Johnson in den 50er Jahren befreundet, als sie beide
als Werbegrafiker ihr Geld verdienen, und die kleinen Zeichnungen, mit
denen Johnson seine Mail Art illustrierte, erinnern ebenso an Warhols frühe
Buchillustrationen wie Johnsons seltsame Privatmythologie voller Filmstars
und anderer Camp-Ikonen an Warhols Pandämonium der Reichen und Schönen. Ein
Foto im dem reich illustrierten Katalog zeigt Johnson sogar als Warhols
Kabelträger bei Dreharbeiten in der Factory. 

Seine wichtige Rolle als Koordinator des Mail-Art-Netzwerks hat lange seine
künstlerische Praxis überschattet, die heute moderner denn je wirkt: ein
Künstler, der das Stiften von sozialen Zusammenhängen über die Produktion
von auratischen Kunstwerken stellte, der Kunst nicht als die Produktion von
Dingen, sondern als Kommunikation und Distribution von Ideen begriff, der
von keinem Museum und keiner noch so gewissenhaft zusammengestellten
Retrospektive jemals gebändigt werden kann. Sein Werk, das er jenseits
seiner Postaktiviäten entwickelt, wird durch den Katalog ebenfalls zum
ersten Mal in seiner Gesamtheit zugänglich. Da erscheinen seine "Moticos",
raumfüllende Anordnungen von kleinen Sklpturen, als Vorgänger der
Installationen eines Claes Oldenburg oder einer Anna Oppermann, seine
großen Collagen als Wegbereiter der Pop Art. 

Die verdiente Anerkennung ist ihm zu Lebzeiten versagt gebleiben, und
vielleicht war das ein Grund für seinen Selbstmord. Hoffentlich trägt
dieser Katalog dazu bei, dass der berühmteste unbekannte Künstler New Yorks
wenigstens ein Eintrag in die Grosse Geschichte der Moderne erhält; es wäre
überfällig. Johnson hinterliess ein reiches Netzwerk von Menschen, das er
gestiftet hat und in dem er als "Webmaster" seither fehlt. "Ich wünschte,
ich könnte ihm noch etwas schicken", schrieb James Rosenquist nach seinem
Tod, "aber er hat keinen Briefkasten mehr." 

Tilman Baumgärtel 

Donna De Salvo: Ray Johnson: correspondences, Flammarion Paris/New York
2000, 50 Dollar, 220 Seiten 

...................................
I think, 
and then I sink
into the paper 
like I was ink.
Eric B. & Raakim: Paid in full

Dr. Tilman Baumgaertel, email: tilman@thing.de
MY HOMEPAGE HAS MOVED!!! http://www.thing.de/tilman
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