Florian Cramer on 7 Sep 2000 14:38:44 -0000


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Re: [rohrpost] Diplomarbeit "Videokunst und ihre Rezeption in den Massenmedien"


Am Thu, 07.Sep.2000 um 15:00:54 +0200 schrieb Martin.Doll:

> Das Thema beinhaltet somit die Problematik, inwieweit sich Ästhetiken der
> Videokunst nach kürzester Zeit in den Werbemedien wiederfinden.

Wieso verläuft die Rekuperation - um Debord-Jargon zu benutzen - nur von der
"Kunst" in die "Werbung" und nicht auch umgekehrt? Knüpfen nicht schon die
frühesten Videokunst-Arbeiten z.B. von Paik und Vostell an ihr
zeitgenössische Werbeästhetik an? (Stichwörter: Pop Art, Fluxus,
Dé-coll/age.) Und gilt das nicht erst recht für die narrative Videokunst der
80er Jahre aus dem Umfeld von "Infermental"?

> Gleichzeitig soll sich die Arbeit der Frage stellen, ob und inwieweit man
> anhand der geänderten Rezeptionshaltung eines Betrachters heute überhaupt
> noch Unterschiede zwischen Kunst und Werbung machen kann. 

Nicht nur die Rezeptionshaltung, auch die Haltung der Produzenten wirft aus
meiner Sicht - nach dem Bauhaus, nach Kurt Schwitters (der zugleich
"Künstler" und Werbegestalter war), nach Andy Warhol - diese Frage auf.
Mir fallen nur zwei Kriterien ein, "Kunst" und "Werbung" zu unterscheiden:

- eine implizite Unterscheidung von "freier" und "angewandter" Kunst;
- eine ethisch-politisch begründete Differenzierung von "Kunst" und "Kommerz".

Die erste Unterscheidung erscheint mir seit William Morris auch für die
moderne Kunst nicht mehr zeitgemäß, und die zweite wäre schon deshalb naiv,
weil auch zeitgenössische Kunstwerke kommerzielle Markenartikel mit einer
corporate identity sind. Was die Coca-Cola-Flasche für jeden anständigen
Supermarkt der Welt ist, sind das Mario Merz-Iglu, die Jenny
Holzer-Leuchtschrift, die Dan Falvin-Neonröhre und das Thomas
Ruff-Fotoporträt für jedes anständige Museum zeitgenössischer Kunst.

> Theoretischer Hintergrund ist weitgehend der medienkritische Ansatz Guy
> Debords ("Die Gesellschaft des Spektakels").

Meine persönliche Ansicht ist, die ich hier nur vorsichtig äußern möchte,
daß Debord als Theoretiker heute überschätzt wird. Man übersieht leicht, daß
sein Denken sich bruchlos - und zudem eher spät - im Diskurs der
französischen postmarxistischen Soziologie der 1950er und 60er Jahre bewegt
und ihm den nirgends definierten oder präzisierten Begriff des "Spektakels"
hinzufügt, den aus heutiger Sicht mediensoziologisch ausdeutet. Die
"Rekuperation" bzw. "Eindämmung" (Stephen Greenblatt)
künstlerisch-politischer Subversion ist vor und nach Debord in diversen
post-, neo- und paramarxistischen Kunstanalysen untersucht worden, die
vergleichend heranzuziehen sich lohnen könnte: allen voran die "Dialektik
der Aufklärung" von Horkheimer/Adorno*, aktuell die literatur- und
kulturwissenschaftlichen Schriften des kalifornischen "New Historicism".

Florian


* Sehr wahrscheinlich haben Debord und die Pariser Situationisten die
Kritische Theorie und Walter Benjamins Schriften einschließlich des (schon
in den 30er Jahren ins Französische übersetzten) "Kunstwerk"-Aufsatzes nicht
gekannt; weshalb sie u.a. dazu verdammt waren, mit ihrer "Psychogeographie"
Benjamins "Passagenwerk" neuzuerfinden. - Rodolphe Gasché, Mitglied der
Situationischen Internationale in den 60er Jahren, später Derrida-Übersetzer
und Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft in Buffalo, sagte mir
einmal auf meine Nachfrage hin, daß er die S.I. weniger mit einer Theorie
identiziere als mit einer Lebensepisode, die ihn zu Benjamin, Adorno und
später zur Dekonstruktion hingeführt habe.



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