Andreas Broeckmann on 10 Sep 2000 19:58:23 -0000


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[abroeck: wird es ein medienkultur-kapitel der Charta 2000 geben? wer
schreibt's?]



Pierre Bourdieu
Gegen die Politik der Entpolitisierung: Die Ziele der  europäischen
Sozialbewegung


Hinter der scheinbaren Zwangsläufigkeit der ökonomischen  Entwicklungen
wenigstens der letzten beiden Jahrzehnte verbirgt sich in Wahrheit  eine
Politik, die freilich paradox ist   insofern es sich dabei nämlich um eine
Politik der Entpolitisierung handelt. Denn ihr Ziel bestand und besteht
darin, den Kräften der Ökonomie, indem sie all ihre Fesseln löst, einen
sich schicksalhaft auswirkenden Einfluß zu geben: sie will nichts anderes,
als  die Staaten und ihre Bürger den derart entfesselten Gesetzen der
Ökonomie  unterwerfen. Alles das, was man unter dem zugleich deskriptiven
und normativen  Begriff der "Globalisierung" faßt, ist keineswegs das
Ergebnis zwangsläufiger  ökonomischer Entwicklungen, sondern einer
ausgeklügelten und bewußt ins Werk  gesetzten, ihrer verheerenden Folgen
allerdings kaum bewußten Politik. Diese  Politik hat liberale oder gar
sozialdemokratische Regierungen einer ganzen Reihe  von wirtschaftlich
fortgeschrittenen Ländern dazu verleitet, ihren früheren  Einfluß auf die
Kräfte der Ökonomie völlig aufzugeben. Es ist vor allem diese  Politik, die
in den geheimen Sitzungen der großen internationalen Organisationen  wie
der WTO oder der EU, oder innerhalb all der "Netzwerke" multinationaler
Unternehmen entwickelt wurde, die heute ihren Willen auf den
verschiedensten  Wegen   und das sind in erster Linie juristische   den
einzelnen Staaten  aufzunötigen imstande scheint.



Deshalb geht es nun darum, gegen diese Politik der  Entpolitisierung und
Entmobilisierung die Politik, politisches Denken und  Handeln
wiederherzustellen, und für dieses Handeln eine geeignete  Ansatzstelle zu
finden, der heute jenseits der Grenzen des Nationalstaats liegen  müßte,
und die dazu erforderlichen Mittel, die sich nun nicht mehr auf die
politischen und gewerkschaftlichen Kämpfe innerhalb des nationalstaatlichen
Rahmens beschränken können. Zugegeben ist ein solches Unternehmen aus
verschiedensten Gründen nur sehr schwer umzusetzen: zunächst, weil die
politischen Instanzen, die es zu bekämpfen gilt, nicht nur geographisch
weit  entfernt sind, und ihre Methoden oder Akteure kaum mehr denen jener
politischen  Instanzen ähneln, auf die sich die traditionellen Kämpfe
gerichtet hatten.  Ferner weil die Macht der Akteure und Institutionen, die
heutzutage die  Herrschaft über Wirtschaft und Gesellschaft ausüben, auf
einer außerordentlichen  Konzentration aller möglichen Arten von
(wirtschaftlichem, politischem,  militärischem, kulturellem,
wissenschaftlichem, technologischem) Kapital beruht,  Grundlage einer noch
nie dagewesenen symbolischen Herrschaft, die vor allem über  den Einfluß
der Medien ausgeübt wird, die dabei häufig selbst und ohne ihr  Wissen
manipuliert werden.



Dazu kommt noch, daß bestimmte Ziele eines wirkungsvollen  politischen
Handelns auf europäischer Ebene angesiedelt sein müssen   zumindest
insoweit europäische Unternehmen und Organisationen ein bestimmendes
Element der  herrschenden Kräfte im globalen Maßstab geworden sind. Das
heißt nichts anderes,  als daß die Schaffung einer vereinigten europäischen
Sozialbewegung, die  unterschiedlichste, gegenwärtig noch gespaltene
Bewegungen sowohl auf nationaler  wie auf internationaler Ebene vereinigen
müßte, sich zu einem unabweisbaren Ziel  für all jene darstellt, die den
herrschenden Kräften des Marktes wirkungsvoll  begegnen wollen.



Vereinigen, ohne zu vereinheitlichen



Diese sozialen Bewegungen, so unterschiedlich sie auch aufgrund  ihrer
jeweiligen Ursprünge, Anliegen und Ziele sind, besitzen eine ganze Reihe
gemeinsamer Züge, die ihnen eine Art Familienähnlichkeit verleihen. An
erster Stelle besitzen diese Bewegungen eine ausgeprägte Abneigung gegen
jede  Monopolisierung durch kleine Minderheiten, sie beruhen im Gegenteil
auf einer  eine unmittelbaren Einbindung aller Beteiligten. Dies vor allem,
weil sie oft  aus der Ablehnung traditioneller Formen der politischen
Mobilisierung,  insbesondere der Parteien sowjetischen Typs hervorgegangen
sind. In dieser  Hinsicht stehen sie der libertären Tradition nahe, ziehen
selbstverwaltete  Organisationsformen vor, die, wendig und schlagkräftig,
den beteiligten die  Möglichkeit eröffnen, wieder als aktive Subjekte ins
Geschehen einzugreifen    gegen jene Parteien, deren Monopol auf
politisches Handeln sie in Frage stellen.  Ein weiterer gemeinsamer Zug
besteht darin, daß sie auf greifbare und  wesentliche Ziele hin
ausgerichtet sind (Wohnung, Arbeit, Gesundheit usw.),  umsetzbare Lösungen
anbieten, und immer wieder zu gewährleisten versuchen, daß  ihre Vorschläge
oder auch ihre Ablehnung exemplarisch und direkt in Aktionen  verbunden
sind, in denen das betreffenden Problem Gestalt annimmt. Eine dritte
Gemeinsamkeit: sie alle lehnen die neoliberale Politik ab, die willfährig
den  Zielen der multinationalen Großunternehmen zur Durchsetzung verhilft.
Und ein  letztes gemeinsames Merkmal ist ihre solidarische Haltung, eine
Art  unausgesprochener Grundsatz, der sich auf die Betroffenen (die
"-losen",  Obdachlosen, Arbeitslosen usw.) ebenso bezieht wie auf die
Unterstützung anderer  Bewegungen.



Die Feststellung einer solchen Nähe bei Mitteln und Zielen des  politischen
Kampfes erfordert vielleicht nicht unbedingt eine Vereinigung der  überall
und verstreut tätigen Gruppen (die zweifelsohne weder machbar noch
erstrebenswert wäre), ein Schulterschluß, der gerade von den jungen
Aktivisten  häufig gefordert wird, weil die tatsächlichen Übereinstimmungen
und  Überschneidungen immer wieder deutlich werden: aber sie verlangen doch
eine  Koordination der Forderungen und des Vorgehens, ohne daß damit
irgendwelche Vereinnahmungsabsichten verbunden wären. Diese Koordination
müßte die Form eines Netzwerks annehmen, in dem sich Einzelne und Gruppen
zusammenschließen könnten, ohne daß irgendwer die anderen beherrschen oder
einschränken kann, und in dem der gesamte Reichtum der unterschiedlichen
Erfahrungen, Sichtweisen und Ziele gewahrt bliebe. Ihm käme vor allem die
Aufgabe zu, die noch zersplitterten sozialen Bewegungen aus ihrem
Partikularismus, den lokalen, temporären und punktuellen Zusammenhängen zu
reißen und ihnen dabei zu helfen, die Regellosigkeit, den andauernden
Wechsel  zwischen intensiver Mobilisierung und einer latenten, vor sich hin
treibenden  Existenz zu überwinden, ohne dabei jener vbürokratischer
Konzentration Raum zu  geben, die gerade ihre besonderen Möglichkeiten
zerstört. .



Gleichzeitig flexibel und stabil, müßte diese Organisation dann  zwei
verschiedene Vorhaben in Angriff nehmen: zum einen bei jeweils kurzfristig
anberaumten und auf die jeweiligen Umstände bezogenen Treffen aufeinander
abgestimmte und auf greifbare Ziele gerichtete Aktionen vorbereiten. Zum
anderen  während fester und regelmäßiger Zusammenkünfte (wie bei den für
Wien und Athen  vorgesehenen Veranstaltungen) der Vertreter aller
betroffenen Gruppen allgemein  bedeutsame Fragen zur Diskussion stellen und
gemeinsam an langfristigen  Zielsetzungen arbeiten. Es käme hier darauf an,
im Überschneidungsbereich der  Betätigungsfelder der einzelnen Gruppen
allgemeine Ziele auszumachen und zu  entwickeln, bei deren Verwirklichung
alle mitwirken und dabei ihre jeweiligen  Möglichkeiten und Mittel
beisteuern könnten   man darf getrost hoffen, daß sich  aus dieser
demokratischen Begegnung einer Vielzahl von Menschen und Gruppen, die
einige wesentliche Vorstellungen und Überzeugungen teilen, allmählich ein
Bündel  von zusammenhängenden und sinnvollen Antworten auf jene
grundlegenden Fragen  ergibt, für die weder die Gewerkschaften noch die
Parteien weltumspannende  Lösungen anbieten können.



Die Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung



Eine europäische Sozialbewegung ist natürlich kaum denkbar,  ohne daß die
Gewerkschaften in ihr mitwirken, vorausgesetzt allerdings, sie  überwinden
die äußeren und inneren Hürden, die ihrem Erstarken und ihrer  Einigung auf
europäischer Ebene im Wege stehen. Es wirkt nur dem Anschein nach  paradox,
den Niedergang der Gewerkschaftsbewegung für eine mittelbare und  zeitlich
verzögerte Wirkung ihres Triumphes zu halten. Viele Forderungen, die
hinter den gewerkschaftlichen Kämpfen standen, sind zu Institutionen
geworden,  die nun, als soziale Rechtsbestände, wesentliche Streitfragen
zwischen den  Gewerkschaften selbst aufwerfen. Als parastaatliche, oft vom
Staat selbst  finanzierte Instanzen sind die Gewerkschaftsbürokratien an
der Umverteilung des  gesellschaftlichen Reichtums beteiligt, sie sichern
einen sozialen Kompromiß,  der dazu anhält, Konfrontationen zu meiden. Es
kommt immer wieder vor, daß die  Verantwortlichen in den Gewerkschaften zu
Verwaltern dieses Kompromisses werden,  denen die Sorgen und Nöte ihrer
Mandanten fern gerückt sind. Und es kann dann  geschehen, daß sie die Logik
der Konkurrenz zwischen den Apparaten oder  innerhalb der Apparate dazu
verführt, die eigenen Interessen eher zu verteidigen  als die Interessen
derer, die sie eigentlich vertreten sollten. Dies hat zu  einem nicht
geringen Teil dazu beigetragen, die Beschäftigten den Gewerkschaften  zu
entfremden und sogar den Gewerkschaftsmitgliedern eine aktive Mitgestaltung
in der Organisation zu verleiden.



Freilich können diese Entwicklungen im Innern alleine nicht  erklären, daß
die organisierten Gewerkschafter immer weniger und zunehmend  weniger aktiv
werden. Die neoliberale Politik trägt auch hier ihren Teil zur  Schwächung
der Gewerkschaften bei. Die "Flexibilisierung" und vor allem die
Prekarisierung einer wachsenden Zahl von Beschäftigungsverhältnissen und
der  daraus sich ergebende Wandel der Arbeitsbedingungen und
Arbeitsanforderungen  bewirken, daß ein gemeinsames Vorgehen und selbst die
einfache  Informationsarbeit immer schwieriger werden, während die Reste
der sozialen  Sicherung weiterhin einen Teil der Beschäftigten
unterstützen. Dies hält vor  Augen, wie unerläßlich, aber auch wie
schwierig eine Reform gewerkschaftlicher  Arbeit ist, eine Reform, die
eigentlich Ämterotation, eine Infragestellung des  Modells der
uneingeschränkten Delegation ebenso voraussetzte wie die Erfindung  neuer
Techniken zur Mobilisierung der neuen, ungesicherten und randständigen
Beschäftigten.



Die vollkommen neuartige Organisation, auf deren Schaffung es  hier ankäme,
müßte also imstande sein, die Zersplitterung der  Gewerkschaftsbewegung
selbst, ihre unterschiedlichen Ziele und nationalen  Zugehörigkeiten
gleichermaßen zu überwinden wie die Teilung in Gewerkschaften  und
"Bewegungen", und all dies unter Umgehung der über all diesen Gruppen
schwebenden Gefahr der Monopolisierung und Resistenz gegenüber
Veränderungen,  die sich oft in einer beinahe schon neurotischen Furcht
ausdrücken. Die  Schaffung eines solchen dichten und wirksam arbeitenden
internationalen  Netzwerks von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, die
durch gegenseitigen  Austausch, etwa bei den "Generalständen der
europäischen Sozialbewegung" ("Etats  généraux") neue Anstöße erhielten,
müßte ein mit bestimmten Forderungen  auftretendes internationales Vorgehen
nach sich ziehen, das nichts mehr gemein  hätte mit der Arbeit solch
offizieller Institutionen, in denen die  Gewerkschaften ja vertreten sind
(wie der Europäische Gewerkschaftsbund), ein  Vorgehen, das auch die Arbeit
all jener Bewegungen einbegriffe, die sich jeden  Tag ihren ganz besonderen
und scheinbar begrenzten Schwierigkeiten gegenüber  sehen.



Wissenschaftler und Aktivisten


Diese Arbeit zur Überwindung der Spaltungen zwischen den  sozialen
Bewegungen und zur Sammlung aller verfügbaren Kräfte gegen die  ihrerseits
bewußt und fein aufeinander abgestimmten (man denke etwa an das Forum  von
Davos) herrschenden Kräfte muß sich auch auf die Überwindung einer ebenso
unheilvollen Spaltung richten, nämlich die zwischen Wissenschaftlern und
Aktivisten. Angesichts des gegenwärtigen Standes der ökonomischen und
politischen Kräfteverhältnisse, wo die Mächte der Ökonomie in der Lage
sind, in  einer noch nie dagewesenen Weise und bisher unbekanntem Ausmaß
wissenschaftliche, technische und kulturelle Ressourcen in ihren Dienst zu
stellen, kommt der Arbeit der Forschung größte Bedeutung zu, gerade um
solche  Strategien aufzudecken und auseinander zu nehmen, die von
bestimmten  multinationalen Unternehmen und internationalen Organisationen
erarbeitet und  umgesetzt werden, Organisationen, die wie die WTO
universell gültige Regeln  beschließen und durchsetzen, durch die eine
neoliberale Utopie allgemeiner  Deregulierung zunehmend Wirklichkeit zu
werden droht. Die gesellschaftlichen  Hürden für einen solchen
Schulterschluß sind nicht weniger hoch als die, welche  zwischen
verschiedenen Bewegungen oder zwischen ihnen und den Gewerkschaften
stehen. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit, der oft verschiedenen Ausbildungen
und  meist ganz anderen sozialen Karrieren müssen Forscher, die sich aktiv
in einer  Bewegung engagieren ebenso wie die dort Aktiven noch lernen,
miteinander zu  arbeiten und alle Vorbehalte ablegen, die sie
möglicherweise den anderen  gegenüber haben, müssen sich der vielen
eingeschliffenen Vorurteile entledigen,  die mit ihrer Zugehörigkeit zu
ganz unterschiedlichen Welten und der  Unterwerfung unter ihre besonderen
Gesetzen einhergehen, und das kann nur mit  Hilfe neuartiger Formen der
Kommunikation und Diskussion vonstatten gehen. Auch  dies ist eine der
Voraussetzungen dafür, daß es zur kollektiven Erfindung eines  kohärenten,
durch die kritische Konfrontation der jeweiligen Erfahrungen  aufeinander
abgestimmten Bündels von Antworten kommen kann, die ihre politische
Überzeugungskraft dem Umstand schulden, daß sie zugleich systematisch
entworfen  und kollektiv gestützt, in gemeinsamen Wünschen und
Überzeugungen verankert  sind.



Einzig und allein eine europäische Sozialbewegung, die sich der  in den
unterschiedlichen Organisationen der verschiedensten Länder angesammelten
Kräfte und Mittel bedienen, die sich der bei ähnlichen Treffen wie den
"Generalständen" ausgetauschten Informationen, der dort gemeinsam
erarbeiteten  Instrumente des Widerstands versichern kann, wird überhaupt
in der Lage sein,  der ökonomischen und symbolischen Macht der
multinationalen Unternehmen und  ihren Armeen von Beratern und Experten
etwas entgegenzusetzen, in der Lage auch,  an die Stelle jener allein dem
Gebot kurzfristiger Profitmaximierung  gehorchenden und zynisch
durchgesetzten Vorgaben die in jeder Hinsicht  demokratischen Ziele eines
mit ausreichend politischen, juristischen und  finanziellen Mitteln
ausgestatteten europäischen Sozialstaats zu stellen, um der  rohen und
gewalttätigen Kraft engstirniger ökonomischen Interessen Einhalt  gebieten
zu können.


Aus dem Französischen von Andreas Pfeuffer



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