Dieter Wieczorek on 14 Jan 2001 23:58:07 -0000


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[rohrpost] DEAF 2000 / I


Dutch Electronic Art Festival 2000


kurzer Rueckblick I:

Wo kann man sonst noch Laserstrahlexperimente auf ausgehängten Wohnungstüren 
durchführende (Nils Abramson), in anstürzenden Flugzeugen gemeinsam mit 
Kosmonauten zwanzig Sekunden dauernde Schwerelosigkeitsexperimente 
vollziehende (Zero Gravity Projects), ihren konzeptgewollten Realtod 
ankündigende (Dragan Zivanov),  über die Schwierigkeit der Totalabbildung 
von Immunsystemen in technischen- und Cyberräumen berichtende (Eugene 
Thacker), den Gesang auf die über den Datenflusse der Städte dahinschwebende 
Glitch-Musik („beauty is uglyness repeated“) anstimmende (Kodwo Eshun) und 
gebannt auf virtuelle Gebilde erzeugende, mit x-hundertfacher 
Umdrehungsgeschwindigkeit rotierende Farbtafeln blickende (Bruce McClure), 
an einem Ort zusammenkommende und gutgelaunt gemeinsam einen Wodkatoast auf 
den Astronautenpionier  Juri anstossende Menschen sehen, wenn nicht auf 
einem Festival der elektronischen Künste? Diese aussergewöhnlich rare 
Begegnung zwischen fröhlicher Wissenschaft und eingelöster rhizomatischer 
Op- und Subversionen ist schon eine Reise wert.

PETER WEIBEL aber singt dort das Totenlied der Muse und der freien Zeit. Da 
angesichts der sozialen Realität für die Meisten freie Zeit aufgrund der 
faktischen Konsumbeschränkungen nicht mehr – so Weibel – aktive und 
selbstbestimmte Zeit sei, siedele eine immer grössere Zahl von Zeitsklaven 
im angebrochenen Zeitalter der Kronokratie im Abseits des Lebens.
Kippt Weibel mit seinem kritischen Impuls gegen die Neuverteilung der 
Kräfte- und Machtverhältnisse durch gesteigerte Akkumulationen der 
Zeiteffizienz nicht das Kind mit dem Bade aus, wenn er neben der 
Produktionszeit nur eine Konsumzeit, nicht aber eine „Lebenszeit“ gelten 
lässt? Fehlende Konsummöglichkeiten ist nicht gleichbedeutend mit Verlust an 
Intensitätserfahrung (oftmals im Gegenteil). Die kritische Theorie Weibels 
wird so auf dem zweiten Niveau zu einer fatalen Affirmation der Logik und 
Stereotypisierung von Lebensvorstellungen und Lebensstildeutungen, wie sie 
von den Zeiteffizienz-Machern geprägt werden. Leben aber ist gerade nicht 
abbildbar im Koordinatensystem von Produktion und Konsumption. Es spielt 
sich andernorts. Weibels Fehldiagnose ist Resultat seiner Prämisse, einen 
ökonomisch geprägten Zeitbergriff allen anderen Zeit-Interpretationen 
überzuordnen. Wie könnte man Weibel erklären, dass Arbeit (auch in seiner 
Definition als  „produktive“ Zeit im Sinne der zeiteffizienten 
Geldakkumulation) verlorene Zeit ist?



Dieter Wieczorek


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