Inke Arns on 4 May 2001 18:22:01 -0000 |
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[rohrpost] Kunst als Strafe, Do 18-20 Uhr, FU Berlin |
Universitätsvorlesung: Kunst als Strafe. Zur Ästhetik der Disziplinierung. http://www.fu-berlin.de/bodynet/veranst/veranst.html (Konzept: Prof. Dr. Gertrud Koch, Dr. Sylvia Sasse, Dr. Ludger Schwarte Beginn am 19.4.2001, 18.00 Uhr, Institut für Theaterwissenschaften, Grunewaldstr. 35) Am 11. März 1999 wurde ein Lastwagenfahrer in den USA dazu verurteilt, sich den Spielfilm "Mississippi Burning" anzusehen. Er hatte ein Auto gerammt, in dem eine weiße Frau und ein schwarzer Mann saßen. Seit Januar 1999 stellen Gerichte in New York den Verurteilten bei kleineren Vergehen zur Wahl, ihre Fehlsozialisation im Gefängnis oder durch den nachgewiesenen Besuch von Opern, Theaterstücken und Kunstmuseen auszubessern. Die Richter wetteifern inzwischen unter dem Stichwort "Creative Sentencing" um ausgefallene Strafideen; mitunter erfinden sie regelrechte Strafperformances. Eine solche Deplazierung der Kunst und Definition von Strafe in der Verbindung von künstlerischer und juristischer Praxis beschreibt einen Grenzbereich zwischen pragmatischen und ästhetischen Disziplinen, zwischen Realität und Fiktion, die über den bewußt ambivalent gehaltenen Titel der Vorlesung, "Kunst als Strafe", thematisiert werden soll. Foucault hat in seinem Buch "Überwachen und Strafen" bereits darauf hingewiesen, daß das Strafen sich stets als eine Kunst im öffentlichen Raum gezeigt hat. Foucault berichtet von der "vernunftgemäßen Ästhetik des Strafens", derzufolge das Strafen zum Spektakel wurde. In einigen Fällen wurde die Idee, daß die Strafe dem Vergehen entsprechen sollte, soweit getrieben, daß die Verurteilten auf dem Hinrichtungsplatz das ihnen zur Last gelegte Verbrechen noch einmal vor aller Augen darstellen mußten, um dann zum Abschluß des Dramas 'real' exekutiert zu werden. Diese von Foucault analysierte Theatralität des Strafens bezieht ihre Plausibilität auch daher, daß das Theater, die Kunst, seit der Antike als Instrument der Regulierung der Leidenschaften und der Disziplinierung eingesetzt wurde, das sowohl inhaltlich wie auch durch poetische Verfahren auf die Zuschauer einwirkt. So läßt Platon in seinen "Gesetzen" das Theater nur insofern zu, als eine Theaterpolizei das Verhalten des Publikums kontrolliert und nur staatstragende Stücke gezeigt werden, die den Geist der Verfassung in die Herzen der Zuschauer brennen. Aristoteles konzipiert das Theater in seiner Tragödientheorie als diejenige Instanz, die das Publikum von jenen Erregungszuständen befreien soll, die es selbst hervorruft. Wenn Aristoteles hier noch eine eher 'psychotherapeutische' Wirkung anstrebt, die später auch Freud in der Analyse wieder aufnehmen wird, geht es doch in der Rezeption des kathartischen Konzeptes zunehmend um eine pädagogische Affektimmunisierung und ethische Läuterung durch Schrecken, Furcht und Abscheu. Verläßt die Kunst mit einer solchen Wirkungsästhetik ihre Grenzen, muß umgekehrt auch die Frage gelten, ob die ästhetischen Verfahren nicht schon inhaltliche und performative Muster bereitstellen und entwerfen, die von der juristischen, religiösen oder pädagogischen und schließlich psychoanalytischen Praxis wiederum usurpiert und politisch funktionalisiert werden können. So lassen sich die von Foucault genannten Beispiele, die Straftheater unter Ivan dem Schrecklichen, die stalinistischen Schauprozesse und auch Kunst unter der Bedingung von Strafe (Gefängnis und Lagertheater) nicht nur als Beispiele politischer Praxis lesen, sondern auch als Zeichen ästhetischer Legitimation, in denen Katharsis als Zentralkategorie der klassischen Ästhetik ihre Unangemessenheit zu erkennen gibt Neben der Analyse dieser Interferenz kultureller und künstlerischer Verfahren ist darüber hinaus zu fragen, wie in der Philosophie, Kunst- und Medientheorie Strafe, Strafverhinderung und Bestrafung durch Kunst thematisiert wurde. Zu beobachten ist, daß neben der Verwendung von Strafe als Motiv insbesondere in der Kunst des 20. Jahrhunderts das Konzept der Katharsis als Verfahren der klassischen Ästhetik hinterfragt wurde. Publikumsbeschimpfungen und Schockeffekte in Performances (von DADA bis Schlingensief) und literarischen Texten (von Dostoevskij bis Henry James oder Vladimir Sorokin), die den Leser und Zuschauer zum Patienten, Opfer oder Täter machen, kollektive "Reinigungsaktionen" wie Marina Abramovics Performance "Come to wash me" (1969) etc. wiederholen diskursive Mechanismen, um deren Funktionalität zu zeigen und Wirkung zu verdeutlichen. Hier geht es nicht mehr darum, eine karthartische Wirkung zu erzeugen, sondern durch künstlerische Verfahren die Kunst vom pädagogisch disziplinierenden Prinzip selbst zu 'reinigen'. Die einzelnen Beiträge der Vorlesung wurden so zusammengestellt, daß sie alle drei zentralen Bereiche: 1. Kunst als Strafe, 2. Kunst des Strafens, 3. Strafen als Motiv oder Thema der Kunst, in ihrer Verbindung diskutieren und die Überschneidung von ästhetischen, juristischen, medizinischen oder pädagogischen Praktiken verdeutlichen. Programm: 19.4. 2001 Prof. Dr. Gertrud Koch (Berlin): "Marsyas/Apollo: Zur Kontinuität einer Ästhetik des Schönen und des Schreckens" 26.4. 2001 Prof. Dr. Erika Fischer-Lichte (Berlin): "Opferrituale. Selbstverstümmelungs-Performances" 3.5.2001 Prof. Dr. Samuel Edgerton (Williamstown,): "When Even Artists Encouraged the Death Penalty" 10.5.2001 Dr. Ludger Schwarte (Berlin): "Katharsis und Kunstlosigkeit. Von der Beherrschung des Publikums zur Anarchie der Kunst" 17.5.2001 - 18.00 Uhr: Dr. Sylvia Sasse (Berlin): "Gerichtsspiele. Gespielte Schuld und reale Strafe (Ivan der Schreckliche, Stalin und zeitgenössische Performance Art) 20.00 Uhr: Alina Vituchnovskaja (Moskau) : "Der Prozeß - Performance und Lesung" 31.5. 2001 Prof. Dr. Georg Witte (Berlin): "Kunst als Strafe für Kunst. Vom Eifer des Vollzugs in Avantgarde und zeitgenössischer Performance" 7.6. 2001 Prof. Dr. Alois Hahn (Trier): "Disziplin im Arsenal der Leidenschaften: Die Kunst des Strafens" 14.6. 2001 - 18.00 Uhr: Prof. Dr. Helmar Schramm (Berlin): "Elektrisches Theater um 1800" 20.00 Uhr: Durs Grünbein (Berlin): Lesung 21.6. 2001 Prof. Dr. Graeme Newman (Albany): "The True Art: Matching the Punishment to the Crime" 28.6. 2001 Prof. Dr. Christoph Menke (Potsdam): "Der Diskurs der Ästhetik und die Macht der Disziplin seit dem 18. Jh." 5.7. 2001 Prof. Dr. Andreas Kablitz (Köln): "Höllenvisionen. Dantes Theologie der Abschreckung und die ‚Kunst‘ der Commedia" 12.7. 2001 Prof. Dr. Elisabeth Bronfen (Zürich): "Bilder, die töten - Tod im Bild. Zu Powell's "Peeping Tom" ---------------------------------------------------------- # rohrpost -- deutschsprachige Mailingliste fuer Medien- und Netzkultur # Info: majordomo@mikrolisten.de; msg: info rohrpost # kommerzielle Verwertung nur mit Erlaubnis der AutorInnen # Entsubskribieren: majordomo@mikrolisten.de, msg: unsubscribe rohrpost # Kontakt: owner-rohrpost@mikrolisten.de -- http://www.mikro.org/rohrpost