Inke Arns on 13 Jun 2001 15:30:42 -0000


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[rohrpost] TAZ-Bericht zu Kollektivkoerperkonferenz



[Anbei noch eine Anekdote, die mir besonders gut gefaellt, erzaehlt von
Andres Veiel, Regisseur des Films "Blackbox BRD": "Die Deutsche Bank ist
ein System, mit dem man sich vollkommen identifizieren muss. Ein Banker hat
das mal so ausgedrueckt: 'Ich bin immer für die Bank da, tagsüber, am
Wochenende, notfalls auch nachts. Erst leidet darunter die Freundschaft,
dann die Ehe. Am Ende gibt es kein anderes soziales Netz mehr.' " (in: Der
Tagesspiegel, 23./24.5.2001). Die Website der KKK findet man unter
http://www.dpklinik.de/kkk/ . Gruss, Inke]



TAZ 12.6.2001
http://www.taz.de/pt/2001/06/12/a0188.nf/text.name,askSAtNXE.n,0

Fleisch geht vor Cyber

Wenn die Partei die Kontrolle über die Gesichtsmuskeln verliert und die
Kunst die Theorie bewegt: Performer und Wissenschaftler trafen sich in der
Schaubühne auf der Kollektiv-Körper-Konferenz

von KATRIN BETTINA MÜLLER

In der Sowjetunion, so erzählte Michail Ryklin, Professor für Philosophie
aus Moskau, hatte die Partei einst die Kontrolle über die Gesichtsmuskeln
ihrer Mitglieder. Sie lächelten und führten einen Jubel auf, der immer
schon für wirklich nahm, was zwar als Programm festgesetzt war, doch von
der Umsetzung oft weit entfernt blieb. 

Als eine wodkagestützte Halluzination beschrieb Ryklin den sowjetischen
Kollektivkörper: eine Aufführung, an die niemand glaubte und die doch dem
Einzelnen die Verantwortung abnahm. Heute, fuhr Ryklin fort, wird nicht
mehr gelächelt - nicht weil es den Menschen schlechter ginge, sondern weil
die Zentralmacht die Kontrolle über die Gesichtsmuskeln eingebüßt hat. 

Der phantasmatische Charakter des Kollektivs aber zeitigt nach seiner
Auflösung Folgen. Sie hat ein Vakuum hinterlassen, in dem jede Abkehr von
der Realität als Befreiung verklärt wird. Ryklin zog eine neuere russische
Literatur, deren Autoren von Drogen besessen sind, als Beleg für seine
These heran. Für die Entlassung aus dem Kollektiv nehmen ihre Protagonisten
Rache, indem sie jede Form sozialer Verbindlichkeit aufkündigen. Nur die
Welt im Rausch zählt, die Toten auf dem Weg dorthin nichts. Der zerstörte
Körper des Junkies als Spätfolge des Traums vom Kollektiv - weit spannte
Michail Ryklin den Bogen von der Avantgarde bis zur Gegenwart. Er ließ
dabei eine Transformation aufscheinen, die im politisch Imaginären begann
und im Trash endet. In diesem Spektrum förderten die Vorträge von
Ethnologen, Theater-, Kunst- und LiteraturwissenschaftlerInnen heterogene
Geschichten von der Erfindung des Kollektiven zutage. 

Organisiert war die Kollektiv-Körper-Konferenz (KKK) vom Graduiertenkolleg
"Körper-Inszenierungen" der FU und der Schaubühne. Sich dort drei Tage lang
selbst ein kollektives Schauspiel zu geben, genossen die Teilnehmer
sichtlich. Ein Anthropologe, auf die Fleischwerdung kollektiver Ideen im
Individuum spezialisiert, schnitzelte neben einem Internetforscher, den
mehr das außer Kontrolle geratene Fleisch interessiert, begeistert Gemüse
für die "Leibspeisung" hundert hungriger Teilnehmer. 

Im Handschüttelkurs von Paul Gazolla konnte man die Grundregeln der
choreografischen Organisation einer Menge aus dreißig Teilnehmern erfahren;
und im Workshop "Deleuze-Game" von Christine de Smedt ein soziales
Regelwerk austesten, in dem solidarische Aktionen entschieden mehr Schweiß
und Atem kosteten als die Selbsteinschätzung als guter Einzelkämpfer.
Kurzum: Die Kunst bewegte die Körper der Theoretiker. 

Die Kunsthistorikerin Inke Arns stellte die Gruppe Neue Slowenische Kunst
(NSK) vor, die aus einer Überidentifizierung mit den Regeln des Kollektiven
verschiedene Strategien entwickelt hat. Ihre Theatergruppe Kosmokinetisches
Kabinett Noordung erweist sich als der skurrilste Wiedergänger des
Kollektivismus. Sie arbeitet an einem 50-Jahres-Plan für eine Performance
im All. Die Schauspieler, auf Lebenszeit verpflichtet, werden im Todesfall
durch Robotersymbole ersetzt. Zur Zeit trainieren sie in der
Schwerelosigkeit. Im Weltraum wurde auch Stephan May fündig bei seiner
Suche nach Kollektivkörpern unter den Borgs und Föderierten der
Star-Trek-Serie, die als weit entferntem Außenposten dem Kollektiv ihrer
Fans eine gemeinsame Basis liefern. Erdverbundener sind dagegen die Vibes,
die der Soziologe Robert Schmidt im Berliner Yaam-Club als Teil eines in
Sport, Musik und sozialen Verhaltsmustern verzweigten Instrumentariums
ausgemacht hat, mit dem an einem Bild schwarzer Kultur gearbeitet wird.
Schmidt konnte von ihr allerdings nie reden, ohne Gänsefüßchen in den Saal
zu winken, denn die Herstellung des Authentischen umgeht viele real
existierende Unterschiede.

So verschieden die Schauplätze dieser Untersuchungen auch waren, fällt doch
eine Ähnlichkeit auf: Die Bezugspunkte, um ein gemeinsames Imaginäres zu
bilden, sind historisch und räumlich in weite Ferne gerückt. 

Peter Sloterdijk, angekündigt mit einem Vortrag "Die Verachtung der Masse",
erschien nicht. Der zweite Star der Philosophenszene, Slavoj Zizek, aber
kam. Schwitzend und fahrig wie jemand, der mit dem Reden kaum dem Ansturm
der Gedanken nachkommt, arbeitete er sich durch die russische Revolution
und den Cyberspace. Merkt euch, Kinder, Revolutionen werden mit leiblichen
Körpern gemacht! Zizek ließ keinen Zweifel daran, dass er das arme Fleisch
dem virtuellen Körper vorzieht. Den Cyberspace sieht er als
kapitalistisches Hilfsprogramm, das der Zirkulation des Geldes nützt und
von der Ökokatastrophe ablenkt. Wer sich in virtuellen Welten amüsiert, den
kümmert das Anwachsen der Altlasten vor seiner Tür wenig. Gegen Ende rief
er allen zu: "We are already free while fighting for freedom. Perform your
liberation."

Das freute selbst die, die seinen Ausführungen zu masochistischen Praktiken
der Selbstbefreiung lieber nicht folgen wollten. Kollektive verlangen
Opfer. Wie tief sich dieses Performativ von der Religion durch die Politik
bis in das Pathos revolutionärer Subjekte gegraben hat, stellten Kattrin
Deufert und Beate Maurer vor. Sie lasen aus Briefen der RAF-Mitglieder aus
dem Gefängnis. Im Hungerstreik setzten die isolierten Gefangenen ihre
Körper als letztes Mittel ein, ein "Wir" zu bilden. Da war es wieder der
Körper des Einzelnen, der den Preis für alle Phantasmen vom Kollektiven
zahlen musste.

taz Berlin lokal Nr. 6468 vom 12.6.2001, Seite 22, 179
TAZ-Bericht, KATRIN BETTINA MÜLLER



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