Ralf Knüfer on 5 Sep 2001 08:47:22 -0000 |
[Date Prev] [Date Next] [Thread Prev] [Thread Next] [Date Index] [Thread Index]
[rohrpost] Das sündige Mädchen und der Schriftsteller |
Ende der Feigheit: Rainald Goetz, Schriftsteller und Bildschirm-Junkie, betritt nach zwanzig Jahren wieder ein Studio - als Talkmaster http://www.faz.de/IN/INtemplates/faznet/default.asp?tpl=faz/content.asp& rub={2D82590A-A70E-4F9C-BABB-B2161EE25365}&doc={C3AF5561-AA00-40F1-9EA1- 648ECEF5FEBE} Es ist ein ungewöhnliches Gespann, das da durch die schmalen Straßen in Berlins Mitte geht: der große elegante Fernsehmann im dunkelgrauen Anzug und der kleine drahtige Schriftsteller in der Bundeswehr-Jacke, der sein Mountainbike neben sich her schiebt. Zusammen marschieren sie von den Redaktionsräumen an der Friedrichstraße hinüber in den repräsentativen Gewerbehof Unter den Linden, wo die Hauptstadtstudios des ZDF liegen. "Ist ja 'ne richtige Rennmaschine, die Sie da haben." - "Na, eher was, mit dem man gut durch die Stadt heizen kann." Die beiden verbindet ein ausgefallenes Fernsehvorhaben. Als "eine Art historisches Projekt" bezeichnet es der Leiter des "ZDF-nachtstudios", Volker Panzer, der sich zur Generation der Achtundsechziger zählt. Und sein Kompagnon Rainald Goetz, der mit Mitte Vierzig immer noch als Popliterat und Enfant terrible gilt, betrachtet das Ganze als "ästhetisches Produkt", dessen "experimenteller Charakter in den Bereich des Künstlerischen führt" - eine Art Fernsehkunstwerk also. Tatsächlich ist es ein Novum, was die "nachtstudio"-Redaktion für ihre ersten drei Ausgaben nach der Sommerpause plant. Nach dem Vorbild des "Literarischen Quartetts" werden vier Journalisten und Autoren über ausgewählte Sendungen des deutschen Fernsehens debattieren - live. Die ganze TV-Palette wird in den Gesprächen abgedeckt, vom "heute-journal" bis zum "Großen IQ-Test", von "Das sündige Mädchen" bis "Kulturzeit". Es soll erörtert und kritisiert werden, philosophiert und gestritten. Die Rolle des Marcel Reich-Ranicki übernimmt Goetz selbst. Ausgerechnet jener umstrittene Schriftsteller, der Medienauftritte meidet wie der Teufel das Weihwasser. Wie hat Panzer das geschafft? Wie hat er Goetz ins "nachtstudio" gelockt, dessen zuweilen verblasene Intellektualität so gar nicht in die marktorientierte Welt des heutigen Fernsehens paßt? Ein Jahr ist es her, da las Panzer "Dekonspiratione", das jüngste Buch von Rainald Goetz. Darin fabuliert der Autor von einer Talkshow zur Fernsehkritik. Panzer nahm Goetz beim Wort, sprach ihn bei einer Lesung an und schlug ihm vor, die Fiktion Wirklichkeit werden zu lassen - aber "da wollte er das gar nicht". Wer Goetz dieser Tage in der ZDF-Redaktion erlebt, begegnet jedoch einem besessenen Fernsehmacher. Er führt das Wort, rauft sich die Haare und rennt auf und ab, wenn Panzer und sein fünfköpfiges Team im fensterlosen Sitzungszimmer tagen. Er zerbricht sich den Kopf über den Sendeablauf und erteilt Anweisungen für die Kameraführung, ein TV-Maniac, der sich nur durch sein "Chance-2000"-T-Shirt von den schwarzgewandeten ZDF-Redakteuren unterscheidet. "Ich sehne mich schon so lange danach", sagt er, "daß Leute, die ich interessant finde, darüber reden, was sie im Fernsehen gesehen haben und wie sie das beurteilen." Aber nicht um die Kritik einzelner Formate geht es ihm. Die ausgewählten Sendungen dienen vielmehr als Anschauungsmaterial für eine grundsätzliche phänomenologische Erörterung unserer Wahrnehmung: Was macht das Fernsehen mit uns? Und wie macht es das? Goetz selbst formuliert es komplizierter: "Das Thema ist die Frage, inwieweit Kriterien, die unterschwellig in ganz vielen Urteilsvorgängen präsent sind, explizit verbalisiert werden können." Panzer ist sich der Paradoxie des Projekts bewußt. Er, der als Gewährsmann gern Niklas Luhmann anführt, weiß: "Das Pikante ist natürlich, daß wir es im Fernsehen tun, das ein selbstreferentielles System ist." Goetz hat die kritische Distanz immer gewahrt. Von Anfang an hat er in seinen Büchern über Medien geschrieben, sich aber selbst von ihnen ferngehalten. Seit seinem Auftritt beim Klagenfurter Bachmann-Preis 1983, als er sich vor laufenden Kameras in die Stirn schnitt, hat er nie wieder ein Fernsehstudio betreten. Er verfolgt das Weltgeschehen aus der Position des zurückgezogenen Beobachters, der Presse und Fernsehen zum Dauergegenstand seiner literarischen Observation macht. "Was wir über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir aus den Massenmedien", schreibt Niklas Luhmann - ein Satz, der für Goetz im wörtlichen Sinn Programm ist: tägliches Fernsehprogramm. "Ich sehe wirklich so viel und so ununterbrochen fern, wie ich kann - und da ich natürlich hauptsächlich an anderen Dingen arbeite, kann ich es oft gar nicht genügend tun, so wie früher. Da hab' ich zum Teil ganze Tage ferngesehen." So schrieb Goetz über ein Jahr lang vor dem Fernseher die Ereignisse des Jahres 1989 mit, um sie als dreibändige O-Ton-Sammlung auf 1600 Seiten zu veröffentlichen. Und schon seit seinen ersten Texten fotografiert er den Fernsehschirm ab, preist die "unvergleichlich schönen Bilder" und die "herrliche Aktualität des Fernsehens". Schon "Dekonspiratione" jedoch dokumentiert, daß dem Autor die ungetrübte Begeisterung abhanden gekommen ist. Von einer Schreibkrise ist dort die Rede, die auf einer Fernsehkrise beruhe. Die Berichterstattung über den Bosnien-Krieg geriet in Goetz' Augen zur medialen Apokalypse: "Es war wirklich das Schlimmste, was ich in meinem erwachsenen Leben an politischer Emotionalität und Totalität erlebt habe." Goetz' erster Talkshow-Auftritt ist Teil seines Werkes und sucht eine Antwort auf die heutige mediale Situation. Der Autor, der keine Distanz mehr zum Medium einnehmen kann, geht ins Fernsehen, um die Bilder wieder zum Sprechen zu bringen. Und Volker Panzer stellt ihm dafür, wie er sagt, "die Experimentierbühne ,nachtstudio'" zur Verfügung - für drei volle Sendungen. Die Entschlossenheit des ZDF-Mannes überzeugte Goetz endgültig. Bei der Pressekonferenz sitzen beide den versammelten Journalisten gegenüber und geben sich gegenseitig Rückendeckung. "Was passiert, ist offen", sagt Panzer. "Wir gehen beide ein Risiko ein, auch ich. Kann durchaus sein, daß wir unsere Klientel verlieren." Und Goetz fügt hinzu: "Es geht darum, nicht zu feig zu sein, das, wovon man intellektuell träumt, in der Realität durchzuprobieren - auch wenn man mehr von seiner Persönlichkeit hergibt, als man es je über die Schrift tun würde." In Goetz' Buch wird die Talkshow-Idee am Ende verworfen, weil die Fernsehsender nicht mutig genug seien. Das "nachtstudio" hat die Herausforderung angenommen, die dem Medium selbst gilt. Außer Panzer und Goetz wird in jeder Sendung der Journalist und Theaterautor Moritz von Uslar mit von der Partie sein, dazu als wechselnde Gäste die Schriftstellerinnen und Fernsehkritikerinnen Alexa Hennig von Lange, Klaudia Brunst und Barbara Sichtermann. Die Frage, die sie zusammen zu beantworten haben, ist weniger, ob das eine oder andere TV-Format gelungen ist. Sie lautet vielmehr, wo das Fernsehen heute steht, ob es mehr ist als ein Apparat der Emotionserzeugung: ein Medium, das sich selbst zu reflektieren, zu erkennen vermag. NORBERT KRON Das erste "nachtstudio" mit Rainald Goetz läuft heute nacht von 0 Uhr an im ZDF. Zu Gast ist Alexa Hennig von Lange, besprochen werden die Sendungen "Kulturzeit" (3sat, vom Montag), "TV total" (Pro Sieben, gestern), "Das sündige Mädchen" (RTL, vom Samstag), "Gestrandet" (RTL 2, vom Sonntag) und "Abenteuer Wissen" (ZDF, von heute). Die zweite Ausgabe des "nachtstudios" sendet das ZDF am 12. September um 0.30 Uhr, die dritte am 19. September um 0 Uhr. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.09.2001, Nr. 206 / Seite 55 ------------------------------------------------------- rohrpost - deutschsprachige Liste fuer Medien- und Netzkultur Archiv: http://www.nettime.org/rohrpost Info: http://www.mikro.org/rohrpost Ent/Subskribieren: http://post.openoffice.de