ritchie on 18 Sep 2001 09:20:50 -0000 |
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[rohrpost] AW: [monochrom] augenzeugen |
Online unter: http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/artikel78905.php Feiner Kommentar, ganz anders als in der Presse. lG.ritchie ---------- Keine Fragen Informationen, die sich selbst dementieren: Der Journalismus und die Attentate in den USA / Von Michel Friedman Sind Sie seit Dienstag hilflos? Sind Sie seit Dienstag ratlos? Sind Sie seit Dienstag sprachlos? So, wie das Bundespräsident Johannes Rau und andere seit Dienstag sich und uns erzählen? Und wenn Sie hilflos und ratlos sind – woher kommt das? Sind Sie überrascht über das, was am Dienstag geschehen ist? Mich überrascht eher, dass so viele überrascht sind. Ist wirklich etwas ganz Neues geschehen? Ist wirklich etwas passiert, das so undenkbar war? Hätte es sich nicht – aus der politischen Analyse heraus – vorausdenken lassen? Erschüttern uns die Handlungen? Erschüttert uns die Zahl der Toten und Verletzten? Oder die Tatsache, dass diese Toten und Verletzten in New York und Washington und nicht in Mazedonien, Bosnien, Tel Aviv oder Jerusalem getötet und verletzt wurden? Wie kommt es, dass – auch wir als Journalisten – in unserer Sprachverwirrung so schnell mit Begriffen aus der Politik operieren, als wären sie selbstverständlich? Was denn nun: Terror? Krieg? Terrorkrieg? Wahnsinnige Fundamentalisten? Wo liegen die Grenzen zwischen Information, scheinbarer Information, gespielter Information, Analyse und Kommentar? Woran soll der zuschauende oder lesende Bürger erkennen, wo wir Kompetenz haben und wo wir sie uns und ihnen vorspielen? Wie soll er herausbekommen, ob wir in der Lage sind, zu reflektieren anstatt zu inszenieren? Der ununterbrochene Strom neuer Eilmeldungen, die einander gegenseitig aufheben – eine neue Krankheit des Fernsehjournalismus. Auf was soll sich der Zuschauer konzentrieren? Worauf soll er sich verlassen? Auf das, was der Journalist oder die Journalistin spricht oder das, was er oder sie vorlesen? Was, wenn zur gleichen Zeit das eine das andere dementiert und der sprechende Kollege nicht einmal weiß, dass übers Laufband gerade das Gegenteil dessen formuliert wird, was er vom Teleprompter abliest. Und das, was er da vorträgt: Begreift er es? Schafft er den Sprung aus der Routine seiner Nachrichtenjahre, in denen er konditioniert wurde, gut zu lesen anstatt gut zu verstehen? Macht das nicht eigentlich jener Knopf im Ohr unmöglich, durch den ein für den Zuschauer anonymer Redakteur dem Präsentator ins Ohr legt, was er fragen soll? Und sollte der Moderierende nicht im gleichen Moment die Antwort seines jeweiligen Gesprächspartners wahrnehmen, reflektieren, hinterfragen? Ist das unser Selbstverständnis von Journalismus? Das gilt auch für die Printmedien, die es nicht ertragen in solchen Zeiten, dass sie das Papier von gestern sind: Sollen ihre aufgeblähten Sonderseiten dieses Gefühl kompensieren? Versuchen sie so, ihre Wichtigkeit zu vermitteln? Ist dieses Schauspiel ernst zu nehmen? Herrscht Krieg? Oder Vorkrieg? Was sind wir nun seit Dienstag? Hilflos? Ratlos? Sprachlos? Ist wirklich durch diese Attentate eine andere Zeit angebrochen? Oder plappern wir das – weil wir sprachlos sind –, unseren Politikern nach, die diese Formulierung wählen, um in ihrer Hilflosigkeit so zu wirken, als würden sie etwas Sinnvolles tun. Wieso reden wir plötzlich alle von Krieg? Ist Krieg? Ist Vorkrieg? Wenn ja, dann ist alles, was wir seitdem reden, denken und tun unverhältnismäßig unangestrengt. Wir müssten uns aber verdammt anstrengen und aufregen als Journalisten, in diesem Beruf der Kommunikation, wenn wir wirklich Angst hätten, es gebe Krieg. Wir könnten dann nicht so arbeiten, wie wir jetzt arbeiten. Wenn wir also keine Angst haben, warum spielen wir dann so leichtfertig mit dem Begriff Krieg? Sind wir uns im Klaren, dass Krieg die ultima ratio des Versagens aller menschlichen Mittel zur Beilegung eines Konfliktes ist? Ist die Extremsituation, in der wir uns befinden, nicht entlarvend für viele Versäumnisse, die in unserer Gesellschaft deutlich werden? Peter Scholl- Latour antwortete in dieser Woche in meiner Sendung auf die Frage, was jener Verteidigungsfall, den die Nato beschlossen hat, für die Welt bedeute, mit einem Satz: Das Ende der Spaßgesellschaft. Kann es sein, dass in dieser Extremsituation deutlich wird, dass wir in Berufen, die große Verantwortung tragen – in der Politik, aber auch im Journalismus – mit viel zu wenigen inhaltlichen, aber auch formalen und professionellen Voraussetzungen an die Arbeit gehen? Dass wir diese Berufe ausüben ohne die entsprechene Bildung und Ausbildung eigens fortzusetzen, ohne uns in Situationen reflektorisch so weit einzuleben, dass wir künftige Szenarien vorwegnehmen könnten? Kann es sein, dass wir in der Banalisierung der innenpolitischen Auseinandersetzungen nicht wahrnehmen wollten, dass die 90er Jahre ein Jahrzehnt der Außenpolitik waren? Aber Außenpolitik lässt sich eben nicht in Quoten und Auflagen verwandeln – mit Ausnahme der Extremsituationen. Haben wir von Bosnien und Mazedonien nicht Kenntnis nehmen wollen? Haben wir wirklich nicht bemerkt, dass in den letzten Monaten der Terror, der uns jetzt so erschüttert, immer wieder viele Tote hervorgerufen hat? Haben wir uns wirklich nicht damit auseinander setzen wollen, dass es nicht nur Schwierigkeiten in den arabischen Ländern gibt, sondern – mit Afghanistan – auch in Russland? Dass nach wie vor die Taliban das größte Problem Putins sind? Warum haben wir uns nicht die Frage gestellt, wer die Taliban überhaupt finanziert und organisiert hat, nämlich Amerika? Haben wir uns wirklich einreden wollen, dass die Geheimdienste Deutschlands, Amerikas, Israels und der ganzen Welt in der Lage wären, uns zu schützen? In Anbetracht der vielen Tatsachen, um die es nun geht: Sind wir wirklich der Meinung, dass der Ernstfall der Verteidigung, den die Nato beschlossen hat – so einfach über Nacht in wenigen Stunden –, so etwas wie eine verantwortungsbewusste Entscheidung sein kann, die rational und intellektuell – also von Journalisten – abfragbar – ist? Haben wir vergessen, dass in den letzten Jahren die Frage des militärischen Intervenierens schon längst eine neue Dimension gefunden hat – unabhängig davon, ob es Anhänger und Gegner solcher Interventionen gibt? Haben wir in Deutschland die unglaubliche Auseinandersetzung über einen Teil der deutschen Identität vergessen, nämlich dass deutsche Soldaten nicht intervenieren und eingreifen sollen? Spätestens seit dem Konflikt des ehemaligen Jugoslawiens gibt es in dieser Frage eine neue Realität. Hat es uns nicht irritiert, dass wir in dieser Koalitionszeit bereits drei Interventionseinsätze außerhalb Deutschlands hatten und dass diese Entscheidungen immer leichter und alltäglicher fallen? Denken wir darüber nach, was sie für eine Bewusstseinsänderung in uns selbst und in der Bevölkerung hervorrufen? Nur dann würden wir als Journalisten solche Themen reflektieren. Ist es wirklich die ultima ratio – auch angesichts dieses extremen Gewaltpotenzials, das jetzt in Amerika geschaffen wurde – von einem Krieg im klassischen Sinne zu sprechen? Wenn es einen Krieg im klassischen Sinne nicht mehr geben sollte – worauf ich mich gerne einlasse –, welche Definition und damit Konsequenz bedeutet es dann zu sagen, es gibt noch Krieg, selbst wenn ihn sich zwei Staaten nicht erklären und sich ihre Armeen nicht gegenüber stehen? Wie wollt Ihr uns das vermitteln? Wenn wir die für alle verbindliche Grunddoktrin des Völkerrechtes verlassen, um Kriegs- und Verteidigungsfall neu zu definieren, warum stellen wir dann nicht den Herren Schröder, Bush und Berlusconi die Frage: Wie wollt Ihr uns vermitteln, dass wir uns darauf verlassen können, dass Ihr Eure Definition nicht gebraucht, um Eure Machtpolitik zu betreiben? Stellen wir uns solche grundsätzlichen Fragen, auch journalistisch? Schaffen wir es trotz aller Emotionen, um die es geht, den Staatsmännern die entscheidenden Fragen weiter zu stellen und als Störenfriede dazustehen? Stellen wir sie uns selbst, bevor wir sie anderen stellen? Stattdessen, jedenfalls in Deutschland, ununterbrochene Berichterstattung. Und haufenweise Experten. Wenn die Kolleginnen und Kollegen wirklich der Meinung waren, eine Zeitenwende sei gekommen, dann war es unverantwortlich, diese Experten heran zu karren. Man kann nicht das Höchste an Objektivität vermitteln wollen mit jemandem, der per se noch höher steht als der Journalist oder Kommentator. Denn die Gastgeber all dieser Experten wissen sehr wohl, dass sie in der Regel genauso erschrocken und erschüttert sind wie sie selbst. Kann man also den Extremfall und die daraus entstehenden Deformationen nicht als Beweis dafür nehmen, dass dieselben Schwächen im Journalismus auch im Normalfall explodieren? Der Beitrag ist Teil einer Rede, die Michel Friedman, Rechtsanwalt, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland und Moderator des ARD-Polittalks Friedman, beim 1. Internationalen Medienkongress des Deutschen Journalistenverbands am vergangenen Wochenende in Montepulciano hielt. ------------------------------------------------------- rohrpost - deutschsprachige Liste fuer Medien- und Netzkultur Archiv: http://www.nettime.org/rohrpost Info: http://www.mikro.org/rohrpost Ent/Subskribieren: http://post.openoffice.de