Inke Arns on Thu, 25 Oct 2001 23:52:10 +0200 (CEST)


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[rohrpost] Zur Performativitaet von Programmiercodes in der Netzkunst



Texte, die (sich) bewegen: zur Performativität von Programmiercodes in der
Netzkunst
 
Inke Arns (Berlin)


Vortrag auf der Kinetographien-Konferenz, Europäische Akademie Berlin,
25.10.2001
<http://www2.hu-berlin.de/slawistik/kineto>

 
Der Titel meines Vortrags „Texte, die (sich) bewegen“ hat vier
unterschiedliche Bedeutungen. Liest man ihn mit der Klammer, so handelt es
sich 1) offensichtlich ganz einfach um „sich bewegende Texte“, also
bewegliche, fluide, dynamische Texte, die sich, im Gegensatz zu
stillgestellten, arretierten und immobilisierten Texten, bewegen. Man kann
„Texte, die sich bewegen“ natürlich 2) auch verstehen als „Automobile“,
also als ein göttlicher „Selbstbeweger, der alles andere bewegt“.
Mechanistische Weltbilder suchten so Gott zu definieren: Alles wird bewegt,
nur Gott bewegt sich selbst (aus sich selbst heraus). Lässt man schließlich
die Klammer weg, ist man 3) mit Texten konfrontiert, die andere Texte,
Dinge u.a. in Bewegung versetzen. Die vierte Bedeutung (im Sinne von
„bewegende Texte“) schließlich spielt auf die emotionale Wirkung an, die
Texte auf Menschen haben können. Diese im Titel angelegten Bedeutungen
werden – mit Ausnahme der göttlichen Automobile – meinen Vortrag
strukturieren.

 
1) Texte, die sich bewegen 

In Netzkunst und –literatur ist hinsichtlich der heute auch technisch
implementierbaren Beweglichkeit, Verflüssigung und Mobilität von Texten und
Bildern oft von einem „Verlust der Einschreibung“ die Rede. Texte/Werke
zeichnen sich, so die Behauptung, zunehmend durch permanente Bewegung,
Veränderung und Flüchtigkeit und nicht mehr durch materiell
festgeschriebene Statik aus. Martin Burckhardt spricht hinsichtlich der
elektromagnetischen Schrift von der „Verflüssigung des tradierten
Schriftbegriffs“[1]. Wenn Sybille Krämer von der „Fluidität des Wortes“
spricht und dieses Wort als Medium bezeichnet, „dessen Daseinsweise
Flüchtigkeit und Fluktuanz ist durch und durch“[2], ließe sich – spinnt man
das Flüchtigkeitsparadigma weiter – fast vermuten, dass Netzkunst bzw.
–literatur die Eigenschaften des gesprochenen Wortes annehme. Umberto Eco
behauptet in einem neueren Text mit dem Titel “Books, Text and Hypertext”,
dass „the infinity or at least the indefinite abundance of interpretation
is due not only to the initiative of the reader, but rather to the physical
mobility of the text itself, a text that is produced just in order to be
re-written.”[3] Und Peter Matussek spricht hinsichtlich der
„Oberflächeneffekte der Software“ – also der dynamischen
Datenpräsentationen durch Inszenierung von Information und Animation –
sogar von einem „’performative turn’ graphischer Benutzerschnittstellen“[4]. 
 
Es scheinen sich also hinsichtlich nun auch technisch realisierbarer
‚Nonlinearität’‚
‚Interaktivität’ und ‚hypertextueller Interkonnektivität’ allgemein zwei
Tendenzen für ein neues Textverständnis durchzusetzen: Alles fließt und
dies ist nur möglich durch neue Medien. Diese Sichtweise verkennt jedoch,
dass Texte nicht erst mit der technischen Implementierbarkeit von Bewegung
mobil werden. Darauf hat spätestens die Intertextualitätstheorie mit ihrem
Verweis auf den Verbindungs- bzw. Netzcharakter von Texten in den 1960er
Jahren hingewiesen. Auch sind sich selbst schreibende bzw. generierende
Texte weder in der Literatur, noch in der Kunst etwas Neues. Jorge Luis
Borges fand mit seinem Buch aus Sand in seiner gleichnamigen Parabel ein
angemessenes Bild für die Unmöglichkeit, dieselbe Seite zweimal zu lesen:
Man „blättert, stößt auf Neues, will es festhalten, sich vergewissernd
zurückschauen, aber die vorhergehenden Seiten vervielfachen sich bis ins
Unendliche eines Labyrinths möglicher Einblicke und lösen sich schließlich
auf wie feiner Sand, der zwischen den Fingern zerrinnt. Aus zeitlicher
Distanz ist nichts, wie es einmal war.“[5] Hier deutet sich die
prä-technische Mobilität von Texten an.
 
Was uns hier jedoch interessieren soll, ist nicht die Problematisierung
eines statischen oder dynamischen Textverständnisses, sondern – ganz im
Sinne unseres Kinetographien-Konzeptes – die präzisere Herausarbeitung
einer Konfiguration bewegender und bewegter Schriften in Netzkunst- und
literatur. Dazu muss zwischen (textuellen) Oberflächen und Texten, die
diese Oberflächen generieren, unterschieden werden. Ein Verbleiben bei der
Oberfläche würde die Tatsache verkennen, dass der Computer kein Bildmedium,
darauf hat Florian Cramer hingewiesen, sondern essentiell ein Schriftmedium
ist, an das alle möglichen audiovisuellen Ausgabemedien anschließbar sind.[6]
 

2) Texte, die andere Texte oder Dinge in Bewegung versetzen 
 
Die These vom „Verlust der Einschreibung“ mit ihrem ausschließlichen Fokus
auf den
Oberflächentext als dem „Text“ von Netzkunst bzw. -literatur geht von einer
falschen
Fragestellung aus. Es reicht meiner Ansicht nach nicht aus, hinsichtlich
der „Oberflächeneffekte der Software“ von einem „’performative turn’
graphischer Benutzerschnittstellen“ zu sprechen[7], denn diese Sichtweise
bleibt zu sehr einer unterstellten Performativität eben jener Oberflächen
verhaftet. Vielmehr muss man bei der Betrachtung von Netzkunst- und
–literaturprojekten (wie auch bei Software allgemein) von mindestens zwei
Texten ausgehen, einem „Phäno“- und einem „Genotext“. Die
Oberflächeneffekte des Phänotextes, z.B. sich bewegende Texte, werden durch
andere, unter den Oberflächen liegende „effektive“ Texte, den Programmcodes
oder Quelltexten, hervorgerufen und gesteuert. Man könnte sogar behaupten
[und das soll hier versucht werden], dass es sich bei (linearen,
statischen) Programmiercodes um illokutionäre Sprechakte[8] handelt,
insofern, als hier ‚Sagen’ und ‚Tun’ zusammenfallen, diese
„handlungsmächtigen“ Sprechakte also keine Beschreibung oder Repräsentation
von etwas sind, sondern direkt affizieren, in Bewegung setzen, Effekte
zeitigen.
 
Friedrich Kittler verwies in seinem Text „Die Schrift des Computers: A
license to kill“ diesbezüglich bereits auf den doppeldeutigen Begriff der
„Kommandozeile“, einem Zwitterwesen, das heute in den meisten
Betriebssystemen durch graphische Benutzer-oberflächen fast verdrängt
worden ist. Noch vor 20 Jahren waren jedoch „sämtliche
Benutzer-schnittstellen und sämtliche Editoren noch
kommandozeilenorientiert“. Hier konnte/kann man zwischen verschiedenen Modi
hin- und herwechseln. Während im Textmodus die Return-Taste zu einem
Zeilenwechsel führt, verwandeln sich eingegebene Texte plus Return-Taste im
Kommandozeilenmodus in potentielle Befehle. ... „und was geschrieben stand
fand tatsächlich statt.“[9] – Kittler schreibt weiter: „Im Computer [...]
fallen, sehr anders als in Goethes Faust, Wort und Tat zusammen. Der
säuberliche Unterschied, den die Sprechakttheorie zwischen Erwähnung und
Gebrauch, zwischen Wörtern mit und ohne Anführungszeichen gemacht hat, ist
keiner mehr. kill im Kontext literarischer Texte sagt nur, was das Wort
besagt, kill im Kontext der Kommandozeile dagegen tut, was das Wort besagt,
laufenden Programmen oder gar dem System selbst an.“[10] Diese Macht oder
Performativität der Computerschrift, die sich u.a. auch im Bedeutsamwerden
kleinster Buchstabenpartikel äußert (Burckhardt und Kittler verweisen auf
die orthographische Strenge von Programmiersprachen; darauf komme ich zum
Schluss nochmal zurück), soll hier nun über die Kommandozeile hinaus in
ihrer Form als maschinenlesbarer Code, menschenlesbare Programmiersprache
bzw. –schriften[11] – und ihrem Bezug zur graphischen Oberfläche –
untersucht werden.
 
In einer Reihe von Vorlesungen, die John Langshaw Austin (1911-1960) 1955
an der Harvard University unter dem Titel How To Do Things With Words
(publ. 1962; dt.: Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1979) hielt, führte
er den bahnbrechenden Gedanken aus, dass sprachliche Äußerungen keineswegs
nur dem Zweck dienen, einen Sachverhalt zu beschreiben oder eine Tatsache
zu behaupten, sondern dass mit ihnen stets Handlungen vollzogen werden.
„Was Sprecher von Sprachen intuitiv immer schon gewußt und praktiziert
haben,“ so schreibt Erika Fischer-Lichte, „wurde hier von der
Sprachphilosophie zum ersten Mal formuliert: dass Sprache nicht nur eine
referentielle Funktion erfüllt, sondern immer auch eine performative.“[12] 
 
Austins Sprechakttheorie begreift Sprechen also grundsätzlich als Handeln
und beobachtet dabei ein Sprechen, das nicht erst durch seine Wirkung
effektiv ist, sondern bereits durch sich selbst. Genau hier trifft sich die
Sprechakttheorie mit der unterstellten Performativität des Code: „[W]enn
ein Wort nicht nur etwas benennt, sondern etwas performativ herbeiführt und
zwar genau das, was es benennt“[13]. 
 
Lokution, Illokution, Perlokution; Programmiercodes als geglückte
(effektive) Illokutionen Austin unterscheidet nun in allen Sprechakten drei
verschiedene linguistische Akte. Den lokutionären Akt bestimmt er als den
propositionalen Gehalt, der wahr oder falsch sein kann. Er soll uns in
diesem Zusammenhang nicht weiter interessieren. Illokutionäre Akte sind
Handlungen, die kraft der Worte ausgeführt werden. Sie sind dadurch
bestimmt, dass jemand, indem er etwas sagt, gleichzeitig etwas tut (die
Aussage des Richters „ich verurteile Sie“ ist keine Absichtserklärung,
sondern ein Tun). Bezeichnung und Ausführung fallen zusammen, indem die
Bezeichnung „geäußert wird, führt sie selbst eine Tat aus“[14].
Illokutionäre Sprechakte rufen also Effekte hervor und können gelingen bzw.
misslingen, je nachdem ob bestimmte extralinguistische Konventionen erfüllt
werden werden. Perlokutionäre Akte sind dagegen solche Äußerungen, die eine
Kette von Folgen auslösen. Das Sagen und die hervorgerufenen Wirkungen
fallen zeitlich nicht zusammen. Wie Judith Butler bemerkt, sind die „Folgen
nicht dasselbe wie der Sprechakt, sondern eher die Ergebnisse oder das
‚Nachspiel’ der Äußerung.“[15] Sie bringt diesen Unterschied auf folgende
prägnante Formel: „Während illokutionäre Akte sich mittels Konventionen
vollziehen, vollziehen sich perlokutionäre Akte mittels Konsequenzen. Diese
Unterscheidung beinhaltet also, dass illokutionäre Sprechakte ohne
zeitlichen Aufschub Effekte hervorrufen, dass hier das ‚Sagen’ dasselbe ist
wie das ‚Tun’ und dass beide gleichzeitig erfolgen.“[16] Insofern, als hier
‚Sagen’ und ‚Tun’ zusammenfallen, ließen sich also Programmiercodes als
illokutionäre Sprechakte bezeichnen, im Sinne von Kittlers Diktum „und was
geschrieben stand fand tatsächlich statt“[17], und zwar umgehend.
 
Sprechakte können nach Austin auch Handlungen sein, ohne jedoch unbedingt
effektiv sein zu müssen (d.h. „glücken“ zu müssen). Scheitern oder
missglücken diese Handlungen, stellen sie verfehlte performative Äußerungen
dar. Ein Sprechakt, auch wenn er sprachliches Handeln ist, ist also nicht
immer ein effektiver Akt. „Eine geglückte performative Äußerung ist
[jedoch] dadurch definiert,“ so Judith Butler, „dass ich die Handlung nicht
nur ausführe, sondern damit eine bestimmte Kette von Effekten auslöse.“[18]
Programmiercodes machen, ganz pragmatisch betrachtet, nur als geglückte
performative Äußerungen Sinn; lösen sie keine Effekte aus (egal, ob diese
erwünscht oder unerwünscht sind), sind sie nicht ausführbar, sind sie
schlicht und ergreifend überflüssig. Code macht nur als ausführbarer Code
Sinn (darauf komme ich am Schluss nochmal zurück). 
 
Es ist also der Code, der performativ ist, und nicht die (arbiträren,
medialen) Oberflächen, die er erzeugt und steuert. Im Code fallen ‚Sagen’
und ‚Tun’ zusammen, insofern diese „handlungsmächtigen“ Sprechakte keine
Beschreibung oder Repräsentation von etwas sind, sondern diese direkt
affizieren, in Bewegung setzen, Effekte zeitigen. Sybille Krämer definiert
Performativität als Verkörperung im Gegensatz zur Darstellung, als
Präsentation im Gegensatz zur Repräsentation und als Epiphanie bzw.
Gegenwärtigkeit anstelle einer Stellvertreterschaft oder Vergegenwärtigung
– eine Definition, die hier vielleicht nutzbar zu machen wäre.
Performativität läuft so letztlich auf die magische Ineinssetzung von
Zeichen und Bezeichnetem hinaus, die sich (erstaunlicherweise?) auch in der
Entwicklung der Zahlen in der Mathematik finden lässt. Während George Boole
in seinen Investigations on the Laws of Thought (1854) Null und Eins nicht
mehr als Repräsentanten von einem Ding begreift sondern zu systemischen
Markern für An- bzw. Abwesenheit machte[19], erklärte der Mathematiker
David Hilbert in „einer radikalen Tautologie [...] die Zeichen, mit denen
die Mathematik operiert, aber auch nur operiert hatte, zu ihrer Sache
selbst.“[20] – Mit den computable numbers verschwindet die Abbildbeziehung
der Zahlen zur Welt; „Sache der Mathematik sind“, so Friedrich Kittler,
seit Hilbert „keine Wesenheiten mehr, die vom Papier lediglich bezeichnet
würden; Sache sind gerade umgekehrt die materialen Signifikanten auf dem
Papier selber.“[21]
 
Bewegung und Stillstand, Dynamik und Statik, Linearität und Non-Linearität
gehen im Code ein paradoxales Verhältnis ein: Während der invariable Code
als Schrift sich „an einer Geraden [...] entfaltet“[22] – laut Burckhardt
heißt scriptum im Lateinischen nicht nur Schrift, sondern auch Linie –,
dieser Code somit Linearität und auch eine gewisse Statik verspricht, kann
es doch bereits schon auf dieser Ebene nonlineare, dynamische, zyklische
Zustände geben – und zwar noch bevor eine Oberfläche ins Spiel kommt, die
sich bewegen könnte. Diese Kopplung von Statik und Dynamik im Code ist
weniger paradox, wenn man mitdenkt, dass es die Performativität des
(statischen, linearen) Textes ist, die den Text zum Abarbeiten textinterner
Rekursionen und Schleifen anhält. Bezogen auf Kinetographien könnte man
sagen, dass es sich bei Programmcodes nicht um ein Aufzeichnungssystem von
Mobilitäten oder Dynamiken handelt, sondern um ein „Mobilisierungs-„ bzw.
„Immobilisierungssystem“.
 
Trotzdem nochmal zurück vom Code zu den Oberflächen: Heute programmiert man
nicht mehr nur über textuelle, sondern zunehmend auch über sogenannte
visuelle Programmier-sprachen (Visual Basic [bereits Ende der 1960er],
aktuell: die Software Max bzw. Nato). Die einfachste Form einer solchen
Oberflächenmanipulationsmaschine sind sicherlich die sogenannten
“What-you-see-is-what-you-get“ (WYSIWYG)-Editoren[23] [z.B. Netscape
Composer]. Visuelle Programmiersprachen ermöglichen durch eine Verschaltung
der Oberflächen mit dem Programmcode mittels direkter Manipulation bzw.
Bewegung der virtuellen Oberflächenobjekte eine indirekte Veränderung bzw.
Schreiben des Code. Trotz diesen engen Kopplung sind es nicht die
Oberflächen oder die auf ihnen manipulierbaren Objekte, die man als
performativ bezeichnen könnte. Es bleibt der Textcode, der effektiv ist,
der Effekte bewirkt und somit als performativ im Sinne der Wirkmächtigkeit
von Sprache bezeichnet werden kann.
 

3) E-Motion [als elektrisch definierte Bewegungsoption]: Texte, die
Benutzer bewegen oder stillstellen

Code als „Mobilisierungs-„ bzw. „Immobilisierungssystem“ wirkt sich nicht
nur auf graphische Benutzeroberflächen aus. „Codierte Performativität“[24]
hat genauso unmittelbare, auch politische Konsequenzen auf die virtuellen
Räume (u.a. des Internet), in denen wir uns zunehmend bewegen:
“Programmcode“, so der amerikanische Jurist Lawrence Lessig, „tendiert
immer mehr dazu, zum Gesetz zu werden.” Heute werden Kontrollfunktionen
direkt in die Architektur des Netzes, also seinen Code, eingebaut. Diese
These stellt Lessig in Code and other Laws of Cyberspace[25] (1999) auf. Am
Beispiel des Online-Dienstes AOL macht Lessig eindringlich klar, wie die
AOL-Architektur mit Hilfe des sie bestimmenden Codes jegliche Form von
‚Zusammenrottung’ verhindert und eine weitgehende Kontrolle der Nutzer
erlaubt. Unterschiedliche Codes erlauben unterschiedliche Grade von
Bewegung(sfreiheit): “Die Entscheidung für einen bestimmten Code ist, „ so
Lessig, „auch eine Entscheidung über die Innovationen, die der Code zu
fördern oder zu hemmen imstande ist.”[26] Zu dem, was Birgit Richard (2001)
die strukturelle, bilderlose Gewalt im Netz genannt hat, gehört sicherlich
auch die Gewalt des Eigen- bzw. Markenamens im Netz bzw. in virtuellen
Welten. „Man könnte fast glauben,“ so Richard, „man trete in ein magisches
Zeitalter ein, in dem die Nennung eines Namens direkte Auswirkungen auf die
Realität hat. Der Eigenname gilt hier wie bei einer Verfassung als
Gründungstext.“[27] Derrida bezeichnet einen solchen institutionellen
Gründungsakt als Sprechakt, denn dieser „Akt besteht nicht in einem
deskriptiven oder konstatierenden Diskurs, er vollzieht, vollbringt und
tut, was er zu tun sagt [...].“[28] Der Domainname im Web, der eine
Vereinfachung der numerischen IP-Adresse ist, ist mehr als nur ein Name: er
hat performative Eigenschaften und er ist ausschliesslicher Ort. Es gibt
keinen anderen neben ihm.
 
Soviel vielleicht zur (durchaus bewegenden) Frage nach den politischen
Dimensionen solch „codierter Performativität“. Enden möchte ich mit einem
Ausblick auf kritische
Medienkompetenz und Netzkunst: Die Macht / Mächtigkeit/ Performativität der
Computerschrift bzw. des Codes[29] wird heute zunehmend durch sich über den
Code legende graphische Oberflächen verdeckt. Zu Recht wünscht sich
Friedrich Kittler daher schon seit geraumer Zeit einen neuen
„Computeralphabetismus“, der sich im Sinne einer kritischen Medienkompetenz
der Codes annimmt. Florian Cramer fordert diesbezüglich die
Literaturwissenschaft auf, sich wieder auf ihre Fähigkeiten als
Textwissenschaft zu konzentrieren. Auch der Rezeption von Netzkunstarbeiten
würde, so mein Plädoyer, die Erweiterung ihres eigenen Technikvokabulars
guttun: Netzkunstprojekte erschließen sich nicht nur durch die Ästhetik
ihrer Oberflächen, sondern fordern vom Rezipienten (im Idealfall) ein
Verständnis für die darunter-liegenden Programmiercodes & -strukturen, die
performativ Effekte auf den (sichtbaren) Oberflächen erzeugen (d.h. wie
eine Arbeit gemacht ist, wie sie strukturell aufgebaut ist).
 
Was vielleicht im (literatur-)wissenschaftlichen Kontext noch etwas kühn
erscheinen mag, hat die diesjährige transmediale, das Berliner
Medienkunstfestival, gleich mit der Einführung einer neuen
Wettbewerbskategorie in die Tat umgesetzt: Die Auszeichnung für
„künstlerische Software“ zielt, so die Jury, der 2001 Florian Cramer,
Ulrike Gabriel und John F. Simon Jr angehörten, „auf die Algorithmen - den
eigentlichen Code, der erzeugt, was man sehen, hören und spüren wird. [...]
Der vielleicht faszinierendste Aspekt der Computertechnik ist, dass Code -
ob als Textfile oder Binärzahl – maschinell ausführbar wird. Ein harmloses
Stück Text kann das System stören, verändern oder gar abstürzen lassen.“[30]
 
Die Netzkunst selbst ist schon auf einer nächsten Stufe angelangt: Die
sogenannten „Codeworks“ (Alan Sondheim) sind solche Projekte, die den
reinen, „rohen“ formalen ASCII-Instruktionscode bzw. dessen Ästhetik
benutzen, ohne noch auf die von ihm geschaffenen Oberflächen und
multimedialen graphischen Benutzerinterfaces angewiesen zu sein (dazu
zählen Arbeiten von Jodi, Netochka Nezvanova a.k.a. Antiorp, etc.).
Letztlich bleibt unklar, ob es sich wirklich um maschinenlesbaren bzw.
kompilierbaren Code handelt, oder nicht. Es ist vielleicht eher das Wissen
um die potentielle Ausführbarkeit und Performativität, die hier eine Rolle
spielt, nicht so sehr die Ausführbarkeit selbst. Bezüglich der „Codeworks“
ließe sich erneut die Frage stellen (die vielleicht auch schon hinsichtlich
meiner Verwendung des Performativitätsbegriffs[31] aufgekommen ist): Hat
formaler Programmcode ein Publikum ausser der Maschine, die er adressiert?
Kann formaler Code ohne die Maschine, die ihn umsetzt und ausführt,
performativ sein? Ich würde behaupten: ja. Es gibt Menschen, die den Kode
ohne Maschine lesen können. Die haben bei Eintreffen der email von jodi das
gesamte Kriegsszenario von “walkmonster_start ()“ durchspielen können, ohne
ihn zunächst kompilieren zu müssen.
 


Anmerkungen:

[1] Burckhardt 2000, 27

[2] Sybille Krämer: Sprache-Stimme-Schrift. in: Paragrana 7 (1997), 1, S. 45

[3] Umberto Eco: Books, Text and Hypertext. A Talk by Umberto Eco. In:
Rampike 10/2, meine Hervorhebungen

[4] Peter Matussek: Performing Memory. Kriterien für einen Vergleich
analoger und digitaler Gedächtnistheater. In: Paragrana 10 (2001), H. 1, S.
291-320. [Teil A]
http://www.culture.hu-berlin.de/PM/Pub/Kul/Perfo(A).html

[5] G. Haupt in einem Text zu Arbeiten von Pat Binder, Internet

[6] „Es gibt im Computer nichts als Schrift, woraus folgt, daß Schrift,
Text der Schlüssel zum strukturellen Verständnis des Computers und der
Digitalisierung analoger Zeichen ist.“ (Florian Cramer: Für eine
Textwissenschaft des Digitalen. Typoskript, Vortrag auf dem Germanistentag
Erlangen, 1.10.2001, 2)

[7] Matussek: 2001

[8] John Langshaw Austin: How to Do Things with Words (dt.: Zur Theorie der
Sprechakte, Stuttgart 1979)

[9] Kittler: Die Schrift des Computers. A License to Kill, 2

[10] Kittler: Die Schrift des Computers. A License to Kill. 4

[11] Die Oppositionen Sprache/Schrift, Mündlichkeit/Schriftlichkeit und
Programmiersprache/Code werden hier getrost außer Acht gelassen, denn sie
sind derzeit für meine Argumentation nicht von Bedeutung. Höhere
Programmiersprachen (d.h. der Quellcode) sind menschenles- und schreibbar.
Diese müssen jedoch, um für die Maschine lesbar zu werden, von einem
Compiler in ausführbaren binären Code übersetzt werden. Der Unterschied
zwischen textuellem und numerisch-binärem Code kann hier aber
vernachlässigt werden, gerade weil das eine nur eine maschinenlesbare
Interpretation des anderen ist. Die Sprechakttheorie bezieht sich explizit
auf gesprochene Sprache, während Programmiersprachen, die eigentlich
Programmierschriften heissen müssten, schriftlich verfasst sind. Trotz
(oder gerade wegen?) ihrer Schriftlichkeit handelt es sich jedoch, so die
These, um „wirkungs-„ oder „handlungsmächtige“ Texte, die keine
Beschreibung oder Repräsentation von etwas sind, sondern direkt affizieren,
in Bewegung setzen, Effekte zeitigen. 

[12] Erika Fischer-Lichte: Auf dem Weg zu einer performativen Kultur. In:
Paragrana 7 (1998) 1, 13-29

[13] Judith Butler: Hass spricht. Zur Politik des Performativen. Berlin
1998, 67

[14] Butler 1998, 67

[15] Butler 1998, 31

[16] Butler 1998, 31f.

[17] Kittler: Die Schrift des Computers. A License to Kill, 2

[18] Butler 1998, S. 31

[19] „Booles große Tat besteht darin, dass er die Algebra vom Zahlzeichen
löste, dass er die Null und die Eins nicht mehr als Repräsentanten von
einem Ding begreift, sondern dass er sie zu Markern des Systems macht,
innerhalb dessen die Dinge erscheinen. Die Null und die Eins sind
eigentlich nicht mehr Zahlen, sondern stehen für das System selbst. Für
Anwesenheit, Abwesenheit.“ Burckhardt 44

[20] Kittler: Die Schrift des Computers. A License to Kill. 5

[21] Kittler: Wenn das Bit Fleisch wird, 154. Auch in: Die Schrift des
Computers. A License to Kill. 5.

[22] Burckhardt 20002, 35

[23] Die sich allerdings meistens als WYSIWYDG, also „What you see is what
you don’t get“, erweisen.

[24] Reinhold Grether: The Performing Arts in a New Era. In: Rohrpost
Mailingliste, 26.7.2001

[25] Lawrence Lessig: Code and other Laws of Cyberspace. New York 1999
<http://code-is-law.org/>

[26] Lawrence Lessig, Die Architektur der Kontrolle: Internet und Macht.
In: Eurozine, 28.10.2000
<http://www.eurozine.com/online/partner/austria/transit/issues/2000-01-gs-le
ssig.html>

[27] Birgit Richard: Am Anfang war das Wort: Domain war’s! Zur Gewalt des
Eigennamens in virtuellen Welten. In: Kunstforum International, Bd. 153,
Jan.-März 2001 „Choreographie der Gewalt“, S. 207

[28] Jacques Derrida: Otobiographien. Die Lehre Nietzsches und die Politik
de Eigennamens. In: J. Derrida / F. Kittler: Nietzsche – Politik de
Eigennamens. Wie man abschafft, wovon man spricht. Berlin 2000. 10

[29] Die durch graphische Oberflächen verdeckt Macht/Mächtigkeit des Code
bzw. seine Performativität zeigt sich auch in der orthographischen Strenge
von Programmiersprachen: „Während ein Text auch noch in verstümmelter Form
Sinn macht, bricht die Übertragung ab, sobald nur ein einziges Glied aus
der Kette herausfällt. Genau das ist es ja, was unsere heutigen
Computerprogramme ausmacht. Wenn in einem solchen Programm eine einzige
Zeile fehlt, wenn ein einziger Buchstabe falsch geschrieben ist, so ist der
Regelkreislauf unterbrochen – und das Programm kann nicht ausgeführt
werden.“ (Burckhardt 2000, 38) Und Friedrich Kittler dazu:
„Programmiersprachen [haben] all das, was an Strenge verloren gegangen ist,
übernommen [...]. Unterscheidungen wie die zwischen Komma und Semikolon,
auf dem Papier fast verschwundene Nuancen also, kehren in despotischer
Härte wieder. [H]eute kann ein fehlendes oder mit dem Komma vertauschtes
Semikolon ganze Programme oder gar Betriebssysteme zum Absturz bringen.“
(Kittler: Die Schrift des Computers. A License to Kill. 8)

[30] <http://www.transmediale.de>

[31] Ein möglicher Einwand könnte sein: Performativität bezieht sich nur
auf menschliches Sprechen, auf Sprechen, das von Menschen an Menschen
gerichtet ist. Formaler Code, so könnte der Einwand weiter lauten, richtet
sich aber nur an Maschinen. Ich stimme diesbezüglich mit Florian Cramer
überein, der bestreitet, dass „Maschinensprache nur von Maschinen lesbar“
ist: „It is important to keep in mind that computer code, and computer
programs, are not machine creations and machines talking to themselves, but
written by humans.“ (Florian Cramer: Digital Code and Literary Text,
Typoskript, P0es1s-Symposium 2001, S. 4f.)




Literatur:
 
John Langshaw Austin: How to Do Things with Words (dt.: Zur Theorie der
Sprechakte, Stuttgart 1979)

Martin Burckhardt: Unter Strom. Der Autor und die elektromagnetische
Schrift. In: 

Sybille Krämer (Hrsg.): Medien Computer Realität. Frankfurt/Main 20002, S.
27-54

Judith Butler: Hass spricht. Zur Politik des Performativen. Berlin 1998

Florian Cramer: Digital Code and Literary Text, Typoskript,
P0es1s-Symposium 2001

Florian Cramer: Für eine Textwissenschaft des Digitalen. Typoskript,
Vortrag auf dem Germanistentag Erlangen, 1.10.2001

Jacques Derrida: Otobiographien. Die Lehre Nietzsches und die Politik de
Eigennamens. In: Derrida, Jacques / Kittler, Friedrich: Nietzsche - Politik
des Eigennamens. Berlin 2000 

Umberto Eco: Books, Text and Hypertext. A Talk by Umberto Eco. In: Rampike
10/2

Erika Fischer-Lichte: Auf dem Weg zu einer performativen Kultur. In:
Paragrana 7 (1998) 1, 13-29

[Michael Giesecke: Abhängigkeiten und Gegenabhängigkeiten der
Informationsgesellschaft von der Buchkultur
<http://www.ifgb.uni-hannover.de/extern/kommunikationslehre/giesecke/volltex
t.htm>]

Reinhold Grether: The Performing Arts in a New Era. In: Rohrpost
Mailingliste, 26.7.2001

Friedrich Kittler: Wenn das Bit Fleisch wird.

Friedrich Kittler: Hardware, das unbekannte Wesen. In: Sybille Krämer
(Hrsg.): Medien Computer Realität. Frankfurt/Main 20002

Friedrich Kittler: Die Schrift des Computers: A license to kill.

Sybille Krämer: Sprache-Stimme-Schrift. in: Paragrana 7 (1998), 1, S. 45

Sybille Krämer: Das Medium als Spur und Apparat. In: Sybille Krämer
(Hrsg.): Medien Computer Realität. Frankfurt/Main 20002,

Sybille Krämer (Hrsg.): Medien Computer Realität. Frankfurt/Main 20002
Lawrence Lessig: Code and other Laws of Cyberspace. New York 1999
<http://code-is-law.org/>

Lawrence Lessig, Die Architektur der Kontrolle: Internet und Macht. In:
Eurozine, 28.10.2000
<http://www.eurozine.com/online/partner/austria/transit/issues/2000-01-gs-le
ssig.html>

Peter Matussek: Performing Memory. Kriterien für einen Vergleich analoger
und digitaler Gedächtnistheater. In: Paragrana 10 (2001), H. 1, S. 291-320.
[Teil A] <http://www.culture.hu-berlin.de/PM/Pub/Kul/Perfo(A).html>

Jon McKenzie: Perform or else: From Discipline to Performance, New York:
Routledge 2001

Birgit Richard: Am Anfang war das Wort: Domain war’s! Zur Gewalt des
Eigennamens in virtuellen Welten. In: Kunstforum International, Bd. 153,
Jan.-März 2001 „Choreographie der Gewalt“,
 


- http://www.v2.nl/~arns/

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