sebastian on Wed, 2 Jan 2002 19:58:15 +0100 (CET)


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Subtropen #9/01 - Januar 2002


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Die tausend Plateaus des neuen Kapitalismus | Sebastian Lütgert

Im ideologischen Gepäck von Startup-Unternehmern und Apologeten der digitalen
vernetzten Ökonomie finden sich zahlreiche Schräubchen aus der Werkzeugkiste von
Gilles Deleuze und Félix Guattari. Die linke Netzkritik hatte dem wenig
entgegenzusetzen, teilte sie doch die Annahme, allein die Beschreibung der
gesellschaftlichen Wirklichkeit mit Konzepten wie Rhizom, Deterritorialisierung
oder organloser Körper würde sie verändern. Jetzt ist das Ende solcher
sozialromantischen Vorstellungen zu besichtigen. Und auch dieser Ausgang zeigt
sich deleuzianisch: Kapitalismus als globale Kontrollgesellschaft.


Von Zeit zu Zeit wirft die Geschichte ihre leeren Flaschen aus dem Fenster, und
es gibt tausend gute Gründe, das Ende des dotcom-Booms, das Verschwinden der
digitalen Shopping Malls und das Verstummen des sie begleitenden Geschwätzes mit
Schadenfreude zu quittieren. Dass gerade den Kommerzialisierungsgegnern und
Netzkritikern der ersten Stunde jedoch kein einziger dieser Gründe mehr
einfallen mag, liegt weniger an ihrer legendär kurzen Aufmerksamkeitsspanne, als
vielmehr an einer verborgenen und zugleich umso offensichtlicheren ideologischen
Verwandtschaft zwischen den Visionären einer alternativ-autonom-anarchischen
Netzkultur und den Apologeten der neuen digitalen Ökonomien und Märkte.

Wenn es sich beim Zusammenbruch des e-Commerce um das Platzen einer
»Spekulationsblase« gehandelt hat, dann war die grundlegende Hypothese, der
schlagartig alle heiße Luft entwichen ist, vor allem die Wette, in den digitalen
Netzen lasse sich der Kapitalismus an seine Grenze treiben und das Internet
werde eines Tages deleuzianisch gewesen sein. Eine Archäologie des
vermeintlichen Wissens, das unter den Trümmern der Startups von gestern und in
den Ruinen der Netzkritik von vorgestern begraben liegt, würde in beiden Fällen
auf die gleichen Bruchstücke einer hoffnungslos euphorischen Verwendung jener
Begriffe stoßen, in denen Deleuze und Guattari Ende der Sechziger bis Ende der
Siebziger den Kapitalismus zu denken versucht haben.


Digitale Deleuzianer

Während jeder, der heute noch den Versuch unternähme, mit einem farbigen Badge
am Revers und einem Businessplan in der Tasche ein paar Millionen Euro oder
Dollar Risikokapital zu akquirieren, mit schallendem Gelächter zu rechnen hätte,
rennt gleichzeitig eine ganze Generation selbst gemachter Netztheoretiker mit
nicht viel mehr als jeweils einem ungelesenen Exemplar der Tausend Plateaus
unterm Arm bei Kunstinstitutionen, Zeitungsredaktionen und Universitäten offene
Türen ein. Dass die Rede vom Internet als einer rhizomatischen Wunschmaschine,
die entlang ihrer Fluchtlinien und Deterritorialisierungsvektoren harte
Identitäten und feste Kapitalanlagen gleichermaßen verflüssige, in eine neue
Runde zu gehen droht, ist vor allem deshalb so verheerend, weil die dritte Phase
des Internet, deren Anfänge schon vor dem viel zitierten 11. September liegen,
die erste zu werden scheint, die nicht mehr von der sozialen und ökonomischen
Romantik der frühen Siebziger angetrieben wird, sondern von den globalen
Kontrollphantasien jener Militärstrategen, die die Architektur des Netzes in den
Sechzigern erfunden haben.

Wer heute den konjunkturellen Verlauf der Mesalliance von Neodeleuzianismus und
Netzeuphorie nachzuzeichnen versucht, wird auf einen ersten Boomzyklus stoßen,
der etwa 1992 zunächst verhalten beginnt, nach einer Serie sprunghafter Anstiege
1995 seinen Gipfelpunkt erreicht und anderthalb Jahre später derart abrupt zu
Ende geht, dass sich das nicht allein mit den diskursiven Gewinnmitnahmen
erklären lässt, zu denen es immer kommt, wenn auf einmal sehr viele Leute das
gleiche reden. Die verbliebenen Zeitzeugen verlegen diese erste Hochphase der
digitalen Deleuzianer gern in eine mythische Vorgeschichte, für deren
legendenumranktes goldenes Zeitalter sie den Slogan »The Short Summer of the
Internet« durchgesetzt haben: sagenhafter Aufstieg und plötzlicher Fall einer
theoretischen Strömung, die das Netz als hypertextuelles, antihierarchisches,
graswurzelhaftes und tendenziell organloses Medium benutzt und gefeiert hat. Ein
unvoreingenommener Rückblick hätte nicht nur zu zeigen, warum all diese
Behauptungen sich schon bald als völliger Unsinn erwiesen haben, sondern er
hätte auch ihren spezifischen Umschlagspunkt zu benennen, nämlich den Moment, an
dem die begriffliche Lebenswelt einer bis dahin nur quantitativ anwachsenden
Minderheit so sehr an Trennschärfe verliert, dass sie qualitativ ins
Mehrheitsfähige kippt. Wir haben es also eher mit einem feuchtwarmen Spätsommer
der Netzkritik zu tun, mit einer Zeit, in der die entsprechenden Buzzwords
längst überreif von den Bäumen hingen - und auch das nur, wenn man unbedingt der
Mode folgen will, auf historische Entwicklungen ausgerechnet den Lauf der Natur
zu projizieren.


Netzillusionen

Tatsächlich konnte man Mitte der Neunziger ganzen literaturwissenschaftlichen
Fakultäten dabei zusehen, wie sie, verzückt von der Idee des World Wide Web als
einer wild wuchernden Verweismaschine, riesige Gärten hypertextueller Theorie
auf ihren Universitätsservern anlegten, während einen Flur weiter die Kollegen
von der BWL bereits breite Schneisen durch den Info-Dschungel schlugen. Das Wort
von der Datenautobahn machte die Runde, von einer drohenden Stratifizierung, der
weniger aus politischen als vielmehr aus ökologisch-ästhetischen Gründen die
Rückkehr zur labyrinthischen Landschaftsarchitektur des Rokoko vorzuziehen sei.

Diese Hoffnung auf das Entstehen gewissenhaft gepflegter netzliterarischer
Hypertextrhizome hat sich von all den Verheißungen des deleuzianischen Internet
am schnellsten erledigt, zumal die entsprechenden Versuche sich schon aus
strukturellen Gründen jeder Lektüre entzogen und letztlich nur bewiesen, dass
nicht lineare Bewegungen zwischen Plateaus sich rein technisch nicht nachbilden
lassen, sondern auf die lineare Organisation ihrer faktischen medialen
Grundlagen angewiesen sind. Schon die interaktiven Irrgärten des späten Barock
haben schlechter »funktioniert« und waren weitaus weniger populär, als man
gemeinhin annimmt.

Etwa zur selben Zeit ging auf einem benachbarten Feld, das sich damals gern als
»kulturwissenschaftlich« bezeichnete, die Theorie vom Internet als Immanenzebene
um, deren Protagonisten einen Sommer lang bis spät in die Nacht und bis früh in
den Morgen verkehrtgeschlechtlich in den Chatrooms hingen und über die
antiidentitären Verheißungen subjektloser Kommunikation - gefolgt vom virtuellen
Ende ihrer vermeintlichen Körper - spekulierten. Auch in diesem Fall genügte ein
Blick über die Grenze der eigenen Disziplin, um die Doktoranden der Juristerei
dabei zu beobachten, wie sie die handfest transzendentalen Pfeiler von Online-
Recht und Ordnung in den Cyberspace einzogen, was die Immanenzverfechter jedoch
weder auf die Barrikaden noch zurück zur Kritik, sondern nur umso tiefer in das
Beharren auf der Gültigkeit der eigenen Erfahrung trieb.

Der Irrglauben, die Schleier der bürgerlichen Subjektivierung würden sich lüften
und die Grenzen des männlichen Körpers verschwimmen, begleitet seit dem 19.
Jahrhundert die Einführung jedes neuen Mediums. Die Einführung des
Kabelfernsehens in den Achtzigern fand ihr Echo in den elegant gescheiterten
medientheoretischen Manifesten und Meditationen der Agentur Bilwet, die Kinos
der Zwanziger stürzten ihre Besucher in kollektive Delirien, die heute
ihrerseits Kopfschütteln auslösen, und bereits 1835, bei der Eröffnung der
Eisenbahnstrecke zwischen Nürnberg und Fürth wurden die ersten deutschen Hippies
aktenkundig. Das waren weniger die Kritiker, die warnten, ab 30 km/h werde man
verrückt, als vielmehr diejenigen Passagiere, die darauf bestanden, tatsächlich
Farben zu sehen.

Hartnäckiger als im akademischen Milieu hat sich die Rede vom deleuzianischen
Internet an seinen Rändern gehalten, in den so genannten illegalen
Wissenschaften, insbesondere in der autonomen Medien- und Pop-Theorie, von wo
aus die entsprechenden Lesarten und Begrifflichkeiten mittlerweile überall dort
wieder in die Institutionen zurückströmen, wo nur noch die spekulative
Verzinsung vermeintlich subkulturellen Kapitals betrieben wird.

Die zentrale Figur, auf die die außerakademischen Netzforscher seit jeher ihre
Hoffnungen projizieren, ist die des digitalen Nomaden, der ihrer Vorstellung
nach ziel-, richtungs- und widerstandslos durch die elektronischen Netze wandert
und von jeder physischen Territorialiät befreit per Telefon, Kabel und Satellit
von Kontinent zu Kontinent driftet. Doch während der Hypertext-Hype immerhin
noch Grundkenntnisse von HTML zu popularisieren half und die Immanenz-Euphorie
zumindest indirekt die Bilwetsche Figur des Datendandys hervorbrachte (der
wenigstens noch so sehr Punk - also Materialist - war, um zu wissen, dass es
allem antiidentitären Eigentlichkeitsgeschwätz zum Trotz die Techniken sind, die
die Delirien bestimmen), bearbeitete die rhizomatisch-romantische Rede vom Netz-
Nomaden als neuem Subjekt der Geschichte ihr Feld so gründlich, dass dort auf
absehbare Zeit kein Gras mehr wachsen wird.


Nomaden surfen nicht

Die theoretischen Verheerungen, die die Verschiebung des Deleuzeschen
Nomadismus-Konzepts ins Digitale hinterlassen hat, kommen insbesondere in der
landläufigen Überzeugung zum Ausdruck, der Nomade sei von einem wie auch immer
gearteten Wunsch nach Bewegung getrieben, obwohl doch selbst die Tausend
Plateaus mehrfach explizit darauf hinweisen, dass es sich beim Nomaden gerade um
jene Gestalt handelt, die bis zuletzt versuchen wird, ihren Ort zu halten, die
sich nur im äußersten Notfall von der Stelle bewegt, der angesichts der
drohenden Segmentierungen ihres lokalen Territoriums jeder Gedanke an das
Gleiten auf globalen Oberflächen fremd ist und deren Konzept von Raum das genaue
Gegenteil dessen darstellt, was wir gemeinhin als Mobilität bezeichnen. Und doch
beharren die Fans des Nomaden auf dem obszönen Irrglauben, ausgerechnet in den
Surfern der digitalen Netze und elektronischen Wellen fände der Nomade seine
aktuelle Entsprechung - obwohl er doch gerade deshalb Wüsten und Steppen
bewohnt, weil man dort, wenn überhaupt, am langsamsten vorankommt und die
Eigenheiten des Geländes ihn zudem davor bewahren, von den Protagonisten der
neuen (vom späten Deleuze zu Recht als genuin kontrollgesellschaftlich
gedissten) Sportarten - Springen, Gleiten und eben Surfen - heimgesucht zu
werden. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass der Nomade zwar immer wieder auf
unvorhergesehene Weise von mächtigen, zum Teil weit überlegenen Feinden in die
Flucht geschlagen, nie zuvor jedoch so schamlos durch die Gegend gezerrt wurde
wie in den Deleuzianischen Neunzigern des Internets, deren Ende noch immer nicht
in Sicht ist, sodass man den Nomaden weiterhin vor allem vor seinen Freunden in
Schutz nehmen muss.

Nun herrscht allerdings auch bei Leuten, die nicht gleich jede begriffliche
Verwirrung und jedes konzeptuelle Knäuel als potenzielles Rhizom feiern, die
Ansicht vor, all diese hippiesk-esoterischen Ausläufer der mythischen
Vorgeschichte des Internet hätten sich, wenn nicht erledigt, so doch angesichts
der weitgehenden Kommerzialisierung, Stratifizierung und Transzendentmachung des
World Wide Web so weit zurückgezogen, dass aus dieser Richtung keine ernsthafte
Gefahr mehr drohe. Der Deterritorialisierungssommer, so ihre These, sei in den
naturgesetzmäßig notwendigen Herbst der Reterritorialisierung umgeschlagen, und
der abrupte konjunkturelle Einbruch der Netzkritik erkläre sich schlicht aus dem
im selben Moment umso plötzlicher einsetzenden Boom des Neuen Marktes. Dabei
verkennen sie jedoch völlig, dass auch das ideologische Gepäck der Startup-
Gründer, e-Entrepreneure und Risikokapitalisten, die zwischen 1996 und 1997 die
diskursive Vorherrschaft im Internet übernahmen, zu einem nicht geringen Teil
aus ähnlichen Versatzstücken eilig quer gelesener, primärer wie sekundärer
Deleuze/Guattari-Texte bestand, die jetzt jedoch auf eine derart irre Weise zu
ökonomischen Modellen und Businessapplikationen kurzgeschlossen wurden, dass
sich daneben noch die windigsten Theorien von der neorural-nomadischen Zukunft
des Cyberspace wie harte Wissenschaft ausnahmen.

In ihrem grundlegenden, hierzulande weitgehend ignorierten Aufsatz »The
Californian Ideology« haben Richard Barbrook und Andy Cameron schon 1995 nicht
nur das bizarre theoretische Patchwork beschrieben, auf dessen Grundlage die
Apologeten des Online-Business schon bald ihren gleichermaßen kurzen wie
triumphalen Siegeszug antreten sollten, sondern auch die kulturellen
Herkunftslinien der neuen unternehmerischen Strategien und Tugenden
zurückverfolgt, die bis heute die Management-Seminare beherrschen: absurde
Fusionen von Slackertum und Technikoptimismus, die allerdings - im Gegensatz zur
deutschen Ideologie (Netzkultur als völkische Einheit von »Laptop und
Lederhose«) - ohne reaktionären Ballast auskommen.


Libertär oder liberal

Die Internet-Revolution des e-Commerce war gerade nicht die konservative
Gegenrevolution einer Wirtschaftselite, die die Abenteuerspielplätze des
Netzanarchismus abräumte, sondern die Fortsetzung dieses Anarchismus mit anderen
Mitteln. Sie ist der späte Triumph einer in der Hippiebewegung der
amerikanischen Westküste verwurzelten politischen Strömung, die seit den
Sechzigern für einen radikalen Liberalismus eingetreten war, der sich als Option
auf »analogen« sozialen Fortschritt zwar spätestens mit den Achtzigern erledigt
hatte, als grundlegende Ideologie einer neuen digitalen Sozialutopie jedoch
schon seit den frühen Neunzigern eine ungeahnte Renaissance erlebte. Die vor
allem in Wired, dem Zentralorgan der Bewegung, lancierte Wette lautete, dass die
Idee von der radikalen Freiheit der Individuen, die sich als soziale Forderung
nicht hatte durchsetzen lassen, im Zeitalter der globalen Vernetzung sich als
zwangsläufige Folge des technischen Fortschritts ganz von selbst realisieren
würde.

Was den umherschweifenden Unternehmern des digitalen Kapitalismus - die sich in
ihrer Hochphase, 1999, sogar unwidersprochen nachsagen ließen, in Wirklichkeit
an der Errichtung des globalen Cyberkommunismus zu arbeiten - an Deleuze gefiel,
war neben der grob verkürzten These, die Funktion des Kapitals bestehe
hauptsächlich darin, fortwährend Grenzen zu verschieben und niederzureißen, vor
allem der (bei Deleuze von Nietzsche her in den Text strömende) Vitalismus, der
sich in Richtung einer biologistischen Übermetaphorik verschieben ließ, in deren
Begriffen fortan das Funktionieren ökonomischer und sozialer Systeme beschrieben
werden sollte.

In Reinform lässt sich dieses Denken in Out of Control, dem Hauptwerk des
ehemaligen Wired-Herausgebers Kevin Kelly, bestaunen, wo Kapital als Natur,
Kapitalismus als Biosphäre und das Zirkulieren von Geld, Menschen und Ideen um
den Globus als natürliches Flottieren von Schwärmen, Herden und Wellen im
organischen Ganzen eines ökologisch selbst regulierten freien Marktes gedeutet
wird; mit dem Treppenwitz, dass noch das Platzen der Spekulationsblase sich als
finale Ankunft des organlosen Körpers interpretieren lässt. Kellys Nachfolger
bei Wired, die ansonsten vor allem damit beschäftigt waren, ihre vulgär-
schizoanalytische Kapitalismustheorie - Geldströme (Venture Capital) gegen
Scheißeströme (Content) - als Businessmodell anzupreisen und das nahende Ende
der Lohnarbeit auszurufen, verkündeten bald darauf, das Internet lebe
tatsächlich. Mit spürbarer Verzückung entwarfen sie bereits das Szenario
pervasiv gewordener, sich real in die Natur auflösender Netze, deren kleinste
organische Knoten wahlweise von Biotech-Startups in den menschlichen Körper
versenkt oder von AT&T-Helikoptern flächendeckend über den Metropolen abgeworfen
würden.

Einzig die europäische Linke, die das Studium amerikanischer
Internetzeitschriften in den 90ern fast vollständig versäumt hat, hielt solche
Phantasien noch zu einem Zeitpunkt für irrelevante, gar amüsante Auswüchse
kalifornischer Science-Fiction, als die IT-Industrie bereits derart
astronomische Werbebudgets in das ohnehin schon achtfarbig gedruckte Magazin
pumpte, dass dieses auf das Format eines mittleren Telefonbuchs anschwoll und
zugleich in völlig neue Regionen des Risikojournalismus vorstieß. Der Dow Jones,
so verkündete die Prawda des digitalen Hippietums 1999, werde bis 2008 die 40
000-Punkte-Grenze durchbrechen, um sich Mitte des 21. Jahrhunderts zwischen 250
000 und 400 000 einzupegeln - und spätestens dann würden sich die
Ungerechtigkeiten der Vergangenheit (insbesondere Race, Class und Gender) von
selbst erledigen.


Netzökonomie und linke Kritik

Gerade angesichts des offensichtlichen Irrsinns einer solchen
Deterritorialisierungshypothese reicht es nicht aus, von einer bloß
ideologischen Blase zu sprechen, wurden doch auf der Grundlage von Prognosen wie
dieser in den USA binnen weniger Jahre die Reste staatlicher Wirtschafts- und
Sozialpolitik beseitigt und die materiellen Grundlagen für jene Ordnung
geschaffen, in der sich der militärisch-unterhaltungsindustrielle Komplex seine
Politik mittlerweile ungestört selber macht. Die europäische Linke, die heute in
Hardts und Negris Abgesang auf die starken Staaten und fetten Regierungen
einstimmt, bleibt dringend eingeladen, in Thomas Franks One Market under God
nachzulesen, in welchem Ausmaß sich in den USA der Wired-Ära die Ansicht
durchgesetzt hat, Demokratie und Bürgerrechte seien Errungenschaften, die von
den heroischen Anführern des freien Marktes permanent gegen die Vertreter von
Regierung und Parlament durchgesetzt werden müssten.

Das spektakuläre Scheitern auch der zweiten Welle der Netzeuphorie - wenngleich
die Chefrhizomatiker von America Online, denen heute nicht nur Netscape und
Compuserve, sondern auch die Filmstudios der Warner Brothers, die Labels
Columbia und Elektra, die Zeitschriften Time, Life, Fortune und Money sowie der
Fernsehsender CNN gehören, zu Recht darauf bestehen dürften, Scheitern sehe
anders aus - hat sich wohl bis in den letzten Winkel des Globus herumgesprochen.
Doch gerade auf Seiten der europäischen Netzintelligenz hat das bloß zu
Ratlosigkeit geführt. Eine rapide schrumpfende Zahl rapide wachsender Konzerne
setzt im Kampf gegen die angeblichen Verbrechen von Software-, Musik- und
Biopiraterie digitale Urheber- und »geistige« Eigentumsrechte durch, mit denen
sich nicht nur sämtliche nicht kommerziellen Formen des Datenaustauschs
präventiv kriminalisieren, sondern auch die natürlichen und sozialen Ressourcen
ganzer Kontinente enteignen lassen. Zugleich etablieren amerikanische wie
europäische Regierungsfirmen die technischen Standards einer elektronischen
Sicherheitsarchitektur, neben der die Überwachungsmethoden des 20. Jahrhunderts
dilettantisch wirken. Und die Veteranen der Netzkritik fegen unentgeltlich die
entvölkerten Flure der digitalen Shopping Malls und führen in ihrer reich
bemessenen Freizeit auf den einschlägigen Mailinglisten ihre tragischen
Niederlagen von einst als Farce wieder auf: in diesem Herbst, indem sie die
Geschäftsbedingungen des befreundeten New Yorker Netzkunst-Startups Rhizome.org
als kasinokapitalistisch dekonstruieren. Na pfui, wie geht denn das zusammen,
wer hätte das gedacht? Da passt es ins Bild, dass die Zeitschrift Konkret ihren
Lesern ausgerechnet Telepolis als Startportal für Netzlinke empfiehlt, was
ähnlich viel Sinn macht, als würde De:Bug ihrem Publikum zum Einstieg in die
Kapitalismuskritik das Verbrauchermagazin WiSo ans Herz legen.

Das Internet ist heute auf dem besten Weg, die neuen Formen elektronischer
Arbeit und Freizeit restlos miteinander zu vernetzen und computerisierte Freude,
Verschwendung, Knappheit, Sklaverei und Paranoia zu einem weltweiten 24stündigen
Arbeitstag zusammenzusetzen: zu jenem digitalen Kontinuum, das vielen von uns
zumindest spielerisch bereits vertraut ist als die sich vollendende Einheit von
Spaß und Terror in einer radikal vereinzelnden Neuen Ökonomie.

Zur gleichen Zeit wirft die Geschichte ihre leeren Flaschen aus dem Fenster. Das
Internet wird nicht deleuzianisch gewesen sein, sondern - read my lips, make no
mistake - das erste Massenmedium der Kontrollgesellschaften. Deren Wappentier
wird nicht die Schlange gewesen sein, sondern der Linux-Pinguin. Die globale
Vernetzung autonomer Produzenten wird kein Rhizom gewesen sein, sondern der
Produktionsmodus der hierarchichsten Wirtschaftsordnung, die die Welt je gesehen
hat. Die Grenze des Kapitalismus wird kein Ort gewesen sein, an dem sich eine
hübsche Aussicht auf sein mögliches Jenseits eröffnet, sondern gerade jener
Bereich, in dem die herrschenden Verhältnisse am härtesten um ihr Fortdauern
kämpfen. Und eine Linke, die Morpheus für einen Filmhelden und PHP für ein
Verschlüsselungsverfahren hält (und auch ansonsten glaubt, ihr gemeinsamer Boden
bestünde aus geteilten Meinungen statt aus geteilten Methoden) wird, selbst wenn
sie den mittleren Deleuze endlich durch den späteren ersetzt haben wird, keine
Linke gewesen sein, sondern bloß eine Rechte unter vielen.


Anstelle bibliographischer Angaben verweist der Autor auf Google oder textz.com
sowie auf nettime, make-world und star-ship, ohne die dieser Text nicht
entstanden wäre.

Sebastian Lütgert lebt und arbeitet als Autor und Programmierer in Berlin.


http://jungle-world.com/_2002/02/sub06a.htm


/*
    eine unwesentlich laengere version mit
    noch laengeren saetzen findet sich unter
    http://textz.com/index.php3?text=not+found
*/


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