Tilman Baumgaertel on Thu, 12 Sep 2002 11:24:03 +0200 (CEST)


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[rohrpost] Buchstabenwüsten



http://www.taz.de/pt/2002/09/09/a0214.nf/textdruck


Zeichenwüsten, die zu Bildern werden

Malen mit Buchstaben, das ist ASCII-Kunst. Eine Ausstellung zeigt die
Erzeugnisse dieser Computersubkultur

Raumschiffe aus Buchstaben, Kühe aus Buchstaben, Blumengebinde aus
Buchstaben, Darth Vader aus Buchstaben - eine kleine Ausstellung zeigt nur
Bilder, die aus Buchstaben und Sonderzeichen zusammengesetzt sind, die so
genannte ASCII-Art.

Die Präsentation, die in der ehemaligen Universitätsbuchhandlung an der
Spandauer Straße von einem kunstgeschichtlichen Projekttutorium der
Technischen Universität Berlin organisiert wird, stellt eine der
merkwürdigsten Subkulturen aus der an Merkwürdigkeiten nicht gerade armen
Computerkulturszene vor. ASCII-Art ist ein seltsamer Bastard aus
Computerspielerei, konkreter Poesie, Graffito und experimenteller
Literatur. Seit über zwanzig Jahren übt sich eine ganze Computersubkultur
in der schönen Kunst, Bilder aus Buchstaben zu machen. In der "wirklichen
Welt" ist diese Szene kaum bekannt, von der Kunstwelt ganz zu schweigen.
Aber im Internet gibt es ungezählte Websites und Foren, in denen
unermüdlich neue ASCII-Art gezeigt und diskutiert wird.

ASCII ist die Abkürzung für American Standard Code for Information
Interchange, eine Sammlung von 128 Buchstaben und Sonderzeichen wie %,&,?
oder §, die sich auf jeder Computertastatur finden und von jedem Rechner
verstanden werden. Der Standard wurde 1963 vom American National Standards
Institute (ANSI) eingeführt. Die ASCII-Art, die diese Buchstaben und
Sonderzeichen nutzt, um mit ihnen Bilder und Grafiken zu produzieren,
stammt aus der Zeit, als die meisten Computerbildschirme noch keine Bilder
anzeigen konnten. Um überhaupt visuelle Elemente in der Buchstabenwüste aus
Code und Befehlen auf dem Monitor anzeigen zu können, behalf man sich mit
den Buchstabenbildern. Obwohl das inzwischen nicht mehr notwendig ist, gibt
es nach wie vor eine riesige und internationale ASCII-Art-Szene.

Beim normalen Computeruser sind allenfalls die so genannten Emoticons
angekommen, die kleinen Buchstabensymbole, die in E-Mails Gefühle
signalisieren sollen: ;-) zum Beispiel. Auch in den Cyberpunk-Film "Matrix"
taucht ASCII-Art auf: Die Titel des Films entstehen aus über die Leinwand
rieselnden Buchstaben im historischen Monitorgrün, und auch die Hauptfigur
Neo (Keanu Reeves) erkennt bei einer Verfolgungsjagd in einer Art Vision,
dass seine ganze Umwelt eigentlich nur aus ASCII-Code besteht.

Die Ausstellung "Uniting through Standards" zeigt nun eine Auswahl von
Werken aus dieser digitalen Kunstgattung. Von der Decke hängt auf
Endlospapier ausgedruckte ASCII-Arbeiten, an einer Reihe von Computern kann
man Spiele, Filme und interaktive Arbeiten ansehen. Das Niveau reicht von
Knapp-über- Toilettenschmiererei bis zu Arbeiten von Künstlern, die schon
an der documenta teilgenommen haben. Die erste Web-Arbeit "%20location" des
holländisch- belgischen Netzkunstduos Jodi (www.jodi.org), die aus
zermörserter ASCII-Art besteht, ist sowohl auf einem Computermonitor als
auch als Ausdruck zu sehen. Alexei Shulgins "XXX" spielt mit enttäuschten
Benutzererwartungen: Auf einer pseudopornografischen Seite sind alle
Sexbildchen in einer jugendfreien ASCII- Version zu sehen.

Aber ASCII-Art beschränkt sich schon lange nicht mehr auf statische Bilder.
Auch das historische Computerspiel "Space Invaders" kann man in einer "Text
Only"-Version aus dem Web herunterladen. Selbst Filme wie etwa der Sexfilm
"Deep Throat" oder "Krieg der Sterne" sind in einer ASCII-Version im
Internet zu finden. Einen fast pointillistischen Effekt erzeugt der
@sciifyer, auf dessen Website ununterbrochen und automatisch Pin-up-Bilder
zu Buchstabenwüsten verarbeitet werden.

Es dürfte kein Zufall sein, dass bei vielen ASCII-Arbeiten der menschliche
Leib - und sei es auch nur in Form von pornografischen Bildern - eine Rolle
spielt. So konfrontieren die ASCII-Künstler die Unsinnlichkeit des Textes
mit der Sinnlichkeit des Körpers. "ASCII-Art steht in einer
kunstgeschichtlichen Tradition der Auseinandersetzung von Zeichen und
Bild", meinen die Initiatoren der Ausstellung. Ein Rückblick auf die lange
Geschichte des Schriftbildes, die bis in die Antike zurückreicht, bietet
die Berliner ASCII-Ausstellung allerdings nicht; auch nahe liegende
Verweise auf die konkrete Poesie, die "befreite Sprache" der Futuristen
oder die Experimente mit neuen Buchstaben durch die französischen
Lettristen fehlen. Den gegenwärtigen "state of the ASCII-Art" dokumentiert
die Show allerdings recht umfassend und auf amüsante Art und Weise. TILMAN
BAUMGÄRTEL

Bis 14. 9., täglich 14-21 Uhr, im BGF, Spandauer Str. 2, 10178 Berlin

taz Berlin lokal Nr. 6848 vom 9.9.2002, Seite 25, 153 Kommentar TILMAN
BAUMGÄRTEL, Rezension

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