Florian Cramer on Thu, 12 Sep 2002 15:46:35 +0200 (CEST)


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Re: [rohrpost] republicart theoriekiste, kurze antwort auf henning ziegler und florian cramer


Am Donnerstag, 12. September 2002 um 09:35:19 Uhr (+0200) schrieb Gerald
Raunig:

> ich hab den eindruck, dass sich die diskussion hier allzusehr auf dem
> typischen festhalten an theoretikerInnen-namen aufhaengt. 

...welches das Manifest allerdings auch provoziert, wenn es gleich mit
einem Negri-/Hardt-Zitat beginnt und in seine knapp hundert Zeilen auch
noch Benjamin, Laclau/Mouffe und Deleuze/Guattari unterbringen muß.  Es
liest sich daher wie ein Strategiepapier aus Polit-Theoriezirkeln, nicht
aber wie ein selbstbewußtes künstlerisches Manifest, das ja seinem Titel
zufolge eine Öffentlichkeit ansprechen und kreieren soll. (Womit ich
keiner Theoriefeindlichkeit das Wort reden will, sondern nur einem etwas
souveräneren Diskurs.)

> nicht zu sprechen sein, hier wird durch das manifest hauptsaechlich die
> zentrale politische forderung nach ueberlappenden aktivitaeten in den
> nachbarschaftszonen von politischen kunstpraxen, aktivismus und
> theorieproduktion aufgenommen. 

Interessant fände ich zu hören, inwiefern diese Forderung über ältere
Ansätze - z.B. der Situationisten in den 1950er/60er Jahre, der "Art
Workers Coalition" und der "Produzentengalerien" in den 70er Jahren und
den cultures studies-beeinflußten Projekten wie "ACT!UP" und den
deutschen "Wohlfahrtsausschüssen" der frühen 90er Jahre - hinausgeht
oder sie einfach mit z.T. neueren Theorie-Referenzen aktualisiert.

> wie die theorien zur multitude und zur pluralisierung von
> oeffentlichkeit in einen produktiven transversalen zusammenhang (vgl.
> http://igkultur.at/igkultur/transversal/1018733810) gebracht werden
> koennen, wird nicht zuletzt ein thema fuer das dreijaehrige projekt
> republicart und sein webjournal auf www.republicart.net sein. fuer
> ambitionierte textversuche in diese richtung waeren wir sehr dankbar.

Problematisch hieran - wie überhaupt an dem Manifest und Projekt -
scheint mir zu sein, daß ein strategischer Theorie-Überbau gezimmert
wird, der sich nicht einmal teilweise aus Kunst und ihrer Anschauung,
sondern allein aus einer politischen Betrachtung der Gesellschaft
legitimiert, und in dem Kunst potentiell zu einem Anhängsel wird, das
diesen Überbau offenbar nur nachvollziehen soll. Interessant wäre aus
meiner (meinetwegen "jungliberalen" und "ästhetizistischen") Sicht, wenn
künstlerische Praxis diesen Überbau auch dadurch mitgestalten könnte,
daß sie ihn mitsamt seiner Prämissen unterminiert. Alle guten
Kunsttheorien der letzten hundert Jahre waren genau deshalb gut, weil
sie dies an sich zugelassen haben; man denke an Jakobsons Theorie der
poetischen Funktion, die an futuristischer ZAUM-Dichtung geschult war,
oder an Derridas Dekonstruktion, deren Prämisse der Widerständigkeit
eines Kunstwerks gegen Deutungen es ebenfalls nicht ohne die ästhetische
Erfahrung moderner Kunst gegeben hätte. 

 
> mein humor droht an seine grenzen zu geraten bei der zusammenschau des
> subjects "republikanerkunst" (henning ziegler) und der flapsig
> unterstellten moeglichkeit, das manifest koennte genauso von
> rechtsradikaler seite kommen (florian cramer). 

Das war keinesfalls flapsig gemeint, sondern als kritische Fußnote zu 
zentralen politischen Passagen des Manifests wie 

"Es geht um die experimentellen Formen von Organisierung, die sich im
Kleinen und meist in prekären und zeitlich begrenzten Situationen
entwickeln, die neue Modi der Selbstorganisation und deren Verkettung
mit anderen Experimenten erproben."

und selbst:

"Es geht also nicht um die konsensuelle Identitarisierung von
Öffentlichkeit, sondern um deren konfliktuelle Öffnung. Es geht nicht um
Homogenisierung und totale Transparenz, sondern um Konflikt in
Permanenz, die ständige Neuverhandlung differenter Positionen."

...die zwar alle löblich sind, mir politisch aber zu unscharf
erscheinen. "Selbstorganisation" und andere subkulturelle Attribute (das
Deleuze-Guattarianische "Rhizome" z.B.), ja, selbst "Konflikt" und
"Differenz" lassen sich nämlich problemlos auf rechtsextreme
Jugendkulturen anwenden, die zumindest hier im Osten Deutschlands alle
Codes und Attribute eines popkulturellen Undergrounds und leider auch
einer Gegen-Öffentlichkeit tragen. Ich erinnere mich an eine Diskussion
darüber mit Andreas Broeckmann, Sean Cubitt, Pauline van Mourik Broekman
und anderen Teilnehmern des "Minor Media"-Panels der Hamburger
"Interface 5" im Sommer 2000. Wir kamen zu dem Ergebnis, daß man
"minoritäre Medienpraxen" und ähnliche deleuzianischen Attribute nolens
volens auch rechtsradikalen Subkulturen zuschreiben muß. Ein solcher
Passus, mit Bezug auf das "Thule-Netz", findet sich übrigens auch in
Inke Arns' Buch "Netzkulturen". 

Auf eine terminologische Affinität von Deleuze/Guattari zu Le Pen wies
übrigens Samuel Weber in einem Vortrag hin, der 1997 im Rahmen der
Documenta X stattfand. Er begründete diese Verwandtschaft einleuchtend
durch den gemeinsamen Rückbezug auf Bergsons Lebensphilosophie.

> solche unterstellungen funktionieren nur bei sehr ungenauem lesen,
> sowohl des manifests wie der werke gramscis wie der ausfluesse
> rechtsextremer lyriker. 
>  gramscianisch (was wiederum nicht heisst, dass damit eine politische
> abgrenzung von gramscis theorien gemeint ist).
> gerade andre zogholys publikation, auf die florian cramer verweist, zeigt
> relativ klar, dass es sich bei der rechten entwendung etwa des begriffs der
> "kulturellen hegemonie" um vulgaergramscianische versatzstuecke handelt.

Das sei ja nicht einmal bestritten. Nur finde ich es zu simpel, eine
unangenehme Lesart oder Aneignung nur deshalb zurückzuweisen, weil man
ihr Ungenauigkeiten nachweisen kann. Ich würde im Gegenteil behaupten,
daß sich die Qualität einer Theorie am besten an den Fehllektüren zeigt,
die sie ermöglicht. Daß Gramsci (und auch D/G) rechtsextreme
Fehllektüren ermöglicht, zeigt einen Schwachpunkt seiner Theorie auf,
genau so, wie z.B. dem bisher einzigen brillanten
Globalisierungskritiker, nämlich Karl Marx, alle inhärenten Schwächen
(nämlich die nur vorgeblich materialistische Umschreibung idealistischer
politischer Theologie) durch seine marxistisch-leninistischen und
stalinistischen Fehlaneignungen gnadenlos aufgezeigt und dekonstruiert
wurden.

> dass theoreme entwendet und missbraucht werden, das ist derzeit grad ein
> ganz erfolgreiches spiel der rechten (zuletzt die europaweite umkehrung des
> hate-speech-konzepts im zusammenhang mit dem mord an pim fortuyn). gegen
> solche strategien der entdifferenzierung muesste es zunehmend um die kunst
> der differenzierung gehen. 

Eine Differenzierung, die aber schon in der Theorie selbst angelegt sein
sollte. (Und meiner Meinung nach sollte man der extremen Rechten fast
dankbar dafür sein, wenn sie das "hate speech"-Konzept aufgreift und
dadurch seine christlich-fundamentalistischen Wurzeln wieder sichtbar
macht.)

> das auseinanderhalten von links und rechts ist
> oft einfacher als man denkt, wenn man nur will.

Die Frage ist nicht, was Ihr wollt oder wollen könntet, sondern wie
andere Euer Konzept aufgreifen. Zumindest dann, wenn Ihr ein Manifest
schreibt und von "Öffentlichkeit" sprecht.

Florian 

-- 
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