Florian Cramer on Thu, 3 Oct 2002 13:10:12 +0200 (CEST) |
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Re: [rohrpost] CODeDOC |
Am Mittwoch, 02. Oktober 2002 um 11:43:55 Uhr (+0200) schrieb Tilman Baumgaertel: > Computercode wird gerne mit Musik-Partituren verglichen und das zu > recht: so wie der Musiker beim Spielen eigentlich Befehle ausführt > (Noten sind im Grunde nichts anderes), so gehorcht auch der Computer > Befehlen, die der Programmierer ihm - in Form eines Programms - > eingegeben hat. ...und diese Parallele (die ja vor allem für europäische Musik gilt), ist ja nicht zufällig, weil nach Pythagoras und kanonischen pythagoräischen Musiklehren wie denen von Boethius und Gaffori Musik angewandte Mathematik ist und im mittelalterlich-frühneuzeitlichen System der sieben freien Künste Nachbardisziplin von Arithmetik, Geometrie und Astronomie. Und Computerprogrammierung wiederum ist unstrittigerweise nichts als angewandte Mathematik. Musik und Automatenprogrammierung haben sich schon sehr früh, z.B. im 17. Jahrhundert bei Athanasius Kircher und Marin Mersenne berührt, und so verwundert es nicht, daß von allen Künsten die Musikkomposition die computerhandwerklich bzw. programmiertechnisch nach wie vor avancierteste ist. Allerdings sehe ich den wesentlichen Unterschied zwischen Computerprogrammierung und musikalischer Aufführung darin, daß ein Instrumentalmusiker natürlich kein Automat ist, sondern die Partitur auch nicht-formal (durch individuelle Phrasierungen, Tempi, Wahl des Instruments etc.) interpretiert. Es macht ja den großen Reiz selbst einer hochformalisierten und komplexen Komposition wie Bachs Goldberg-Variationen aus, daß sie völlig anders klingt, je nachdem, ob man z.B. zu einer der beiden Glenn Gould-Aufnahmen oder der Interpretation von Gustav Leonhardt greift. Eine strenge Parallele zwischen Computerprogrammierung von Musik gibt es daher wirklich nur in Computer- bzw. Automatenkompositionen. > Und so wie es für den Nicht-Musiker meist wenig erhellend ist, Noten > zu lesen, so nützt es demjenigen, der nicht programmieren kann, > nichts, wenn er den Code eines Programms zu lesen bekommt. Einspruch! Selbstverständlich liest ein Musikkritiker, -wissenschaftler oder auch ein interessierter Laie auch die Partitur eines Musikstücks (i.d.R. parallel zum Hören). Das lernt man doch selbst, ohne Instrumentalausbildung, im gymnasialen Musikunterricht. Ich stimme Dir natürlich zu, daß zum ästhetischen (und auch kompetenten) Genuß der Goldberg-Variationen es nicht nötig ist, die Partitur zu lesen. Es gibt aber gerade in der Musik-Avantgarde des 20. Jahrhunderts Stücke, die ohne Kenntnis der Partitur bzw. der zugrundeliegenden Spielanweisung nicht verständlich sind, z.B. John Cages 4'33", Saties "Vexations" oder Earle Brownes Klaviermusik, die auf abstrakt-kalligraphischen Partituren aufsetzt. Man stelle sich vor, es gäbe - analog zu proprietärer Binärsoftware ohne öffentlichen Quellcode - nur Schallplattenaufnahmen der Musik von Cage, Browne oder selbst der Goldberg-Variationen ohne den Quellcode der Partituren. Dies würde nicht Studium und Analyse der Werke unglaublich erschweren, sondern auch es fast unmöglich machen, sie später aufzuführen. Genau dies aber droht mit digitaler Kunst zu passieren, die entweder auf Software basiert oder selbst (algorithmische) Software ist. Insofern finde ich den Ansatz des Whitney-Museums kuratorisch sinnvoll; würde ich in einem Museum arbeiten, das digitale Kunst sammelt, so würde ich darauf bestehen, das angekaufte Werke auch im Quellcode erworben werden. Es ist z.B. unwahrscheinlich, daß I/O/Ds Webstalker in zehn oder zwanzig Jahren noch auf aktuellen Computerbetriebssystemen laufen wird (zumal er in Macromedia Director und nicht in einer offen standardisierten Programmiersprache wie C++ geschrieben ist). Besäße man jedoch den Lingo-Quellcode, könnte man für einige zehntausend Euro einen Berufsprogrammierer anheuern, der den Webstalker-Code in eine andere Programmiersprache und auf ein anderes Betriebssystem portiert; was prinzipiell nichts anderes wäre, als z.B. die Transcodierung eines gregorianischen Chorals in das moderne westliche Notensystem. > werden. Das macht die Ausstellung vor allem für diejenigen unter uns > zu einem Vergnügen, die es verstehen, Codebrocken wie die folgenden zu > lesen: "difH = abs(startH - averageH) difV = abs(startV - averageV) > pDiameter = sqrt((difH*difH) + (difV*difV))" Für Nicht-Geeks bietet > die Enthüllung des Quellcode wenig erhellendes. Ich stimme Dir völlig zu, daß das Konzept nach hinten losgeht, und auf absurde Weise handwerkliches Geschick als Kunst ausgestellt und hochgejazzt wird (zumal ich auch die meisten ausgestellten Arbeiten schwach finde). > Doch trotz einiger gelungener Arbeiten wie dieser hinterlässt CODeDOC > einen faden Nachgeschmack: Denn die Ausstellung zeigt auch, wie aus > dem Hype um "Software-Kunst", der seit zwei oder drei Jahren durch die > Medienkunst-Szene geistert, schnell ein ödes Abfeiern technischer > Virtuosität geworden ist, bei der Ideen und Inhalte zweitrangig sind. > Was Einspruch! Du würdest dasselbe doch niemals schreiben, wenn wir von Netzkunst und amerikanischen Netzkunst-Ausstellungen sprechen würden, obwohl es da dieselben oberflächlichen Symptome (Professionalisierung bei inhaltlicher Verflachung) gibt. Tatsache ist doch, daß Netz- und Softwarekunst in Europa immer noch spannender sind, weil sie nicht so schnell institutionalisiert wurden, und zwar dank eines akademischen Medienkunst-Mainstreams, der nach wie vor in den Kategorien "interaktive 3D-Installation", "Video" und "Hightech" denkt und Bill Viola für den da Vinci der elektronischen Künste hält. In den USA hat es meiner Meinung nach durch Rhizome und die größere Akzeptanz seitens professioneller Kuratoren, die sich in Netzkunst-Schauen im Whitney und SF-MOMA niedergeschlagen hat, leider auch ein sehr schnelles Mainstreaming von Netz- und Softwarekünstlern gegeben. Keiner von denen pinkelt anderen mehr öffentlich ans Bein, weil es da mittlerweile um Hochschul-Laufbahnen geht. > ihrer Kollegen hinterlassen, und da schreibt zum Beispiel Scott Scribe > über die Arbeit von Golan Levin: "Dein Code ist sehr elegant." Und > auch sonst wird von den Mitkünstlern "gutes Handwerk" und "sehr > kompetentes Programmierung" hervorgehoben; außerdem sei die Arbeit > "very content-driven". Ja, es ist traurig, aber wahr. > "Material" auseinander zu setzten. Aber die meisten Arbeiten, die bei > "CODeDOC" zu sehen sind, haben wenig Interesse an den Auswirkungen von > Code auf die wirkliche Welt jenseits des Computers, sondern freuen > sich lieber still an den Bildern, die ihre kleinen Programme auf dem > Monitor produzieren. Man hätte ja auch ganz andere Arbeiten zeigen können: Politaktivistische Software wie die Website-Umcodierungstools der Yesmen oder die Antimafia-peer to peer software von EpidemiC, walser.php von textz.com, die Arbeiten von mongrel/Graham Harwood, Untitled Game von jodi, um nur ein paar Dinge zu nennen! -F -- http://userpage.fu-berlin.de/~cantsin/homepage/ http://www.complit.fu-berlin.de/institut/lehrpersonal/cramer.html GnuPG/PGP public key ID 3200C7BA, finger cantsin@mail.zedat.fu-berlin.de ------------------------------------------------------- rohrpost - deutschsprachige Liste zur Kultur digitaler Medien und Netze Archiv: http://www.nettime.org/rohrpost http://post.openoffice.de/pipermail/rohrpost/ Ent/Subskribieren: http://post.openoffice.de/cgi-bin/mailman/listinfo/rohrpost/