Tilman Baumgärtel on Tue, 21 Jan 2003 09:40:05 +0100 (CET)


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[rohrpost] E-Mail-Interview mit Dieter Daniels


Hallo!

Im folgenden ein Interview mit Dieter Daniels zu seinem Buch "Kunst als 
Sendung". Es ist bereits in der Telepolis erschienen, aber jetzt hat mir 
Daniels nochmal eine korrigierte Fassung geschickt, die ich der 
Rorhpost-Öffentlichkeit nicht vorenthalten will.

Ja, Freunde, dass ist der neue "exclusive content", für den wir demnächst 
fünf Euro Mitgliedsgebühr für die Rohrpost-"Goldmembership" erheben werden.

Gruesse,
Tilman




PS: Bevor es jetzt einen Aufstand gibt: das letztere war natürlich nur ein 
Scherz...

-----------------SCHNAPP!----------------------

?: Herr Daniels, in Ihrem Buch "Kunst als Sendung" wollen sie zeigen, wie 
seit der französischen Revolution die Künste technische Entwicklungen der 
Moderne anregten oder vorwegnahmen. Im 19. Jahrhundert führen Sie für diese 
These zwei Menschen an: Samuel Morse, den Erfinder der Telegrafie, und 
Daguerre, den Erfinder der Fotografie. Morse war als Maler eher erfolglos, 
bevor er sich der Technik zuwandte, Daguerre war ein Theatermaler, der für 
innovative "special effects" bekannt war, und betrieb Dioramen, bevor er 
die Fotografie erfand. Beide sind nicht gerade in den Kanon der High Art 
eingegangen. Ist es nicht etwas kühn, diese beiden Figuren als 
stellvertretend für DIE Kunst des 19. Jahrhunderts zu nehmen?

Daniels: Morse und Daguerre sind typische Fälle für eine Krise des 
künstlerischen
Selbstbewusstseins an der Schwelle zur Moderne in der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts. Diese Krise wird u.a. durch den Fortschritt der Technik
ausgelöst, welcher die Kunst nicht mehr als Krönung der menschlichen
Schöpfung erscheinen lässt. Die Erfüllung der grossen persönlichen
Ambitionen von Morse und Daguerre bleibt ihnen in der Kunst versagt. Jedoch
durch einen radikalen Berufswechsel erreichen sie schliesslich als Erfinder
statt als Künstler unsterblichen Ruhm. Damit sind sie durchaus
stellvertretend für DIE Kunst des 19. Jahrhunderts in ihrem Konflikt mit
der entstehenden Medientechnik und ebenso für den neuen Genie-Status des
Erfinders als Konkurrent des Künstlers. Zugleich zeigt ihre individuelle
Biografie, dass ganze ähnliche Motive hinter ihrer Kunst und ihren
Medienerfindungen stehen. Dies hat aber noch nichts mit der Vorwegnahme von
technischen Entwicklungen durch die künstlerische Moderne zu tun, diese
wird erst in späteren Kapiteln zum Thema, etwa im Vergleich von Edisons
Erfindung des Phonografen und Villers frühem Sciencefiction-Roman. Doch 
Morse und Daguerre sind erste Beispiele für den Prozess der Substitution 
von Kunst durch Medien, der bis heute unvermindert anhält - zum Beispiel 
wenn der Netzkünstler Vuk Cosic in einem Interview mit Ihnen sagt: "Art was 
only a substitute for the Internet."

?: Trotzdem kommt in diesem Teil des Buches außer Manet kein einziger 
Künstler vor, der zum Kanon der Kunst des 19. Jahrhunderts gehört. Dass 
Daguerre und Morse ihre künstlerischen Ambitionen durch ihre Erfindungen 
erfüllt haben, stimmt nur, wenn man annimmt, dass ihr Ziel weltweiter Ruhm 
gewesen sei (und schon bei Morse habe ich Zweifel, ob heute noch jemand 
weiß, wer das war...) Aber wenn man als Motive für Kunstproduktion zum 
Beispiel die Erhebung und Erbauung des Menschen, kritische Reflexion über 
unsere Umwelt, Kontakt mit dem Sublimen oder ähnliches nimmt, glaube ich 
nicht, dass Ihre These noch aufgeht. Das leisten Telegrafie oder Fotografie 
nämlich nicht.

DD: Um einen Kanon der Kunst geht es in diesem Buch ganz bestimmt nicht -
und ich finde den Begriff des Kanons ohnehin reaktionär, dies zeigen die
aktuellen Debatten im Bereich Literatur. Statt dessen geht es mir um die
Sichtbarmachung von bisher ignorierten Schnittstellen zwischen Kunst und
Medien, schon lange vor aller Medienkunst. Als Methode dazu dienen
verschiedene Begegnungs-Szenarios: Museum / Telegrafie als zwei
gesellschaftliche Utopien im Kontext der französischen Revolution;
Telegrafie / Fotografie als Substition von Kunst auf der personalisierten
Ebene bei Morse / Daguerre; Phonograf / Roman als Konkurrenz von Technik /
Dichtung um die Imagination bei Edison und Villiers; Fernsehen als Apparat
/ Utopie bei Nipkow / Robida usw. Dabei zeigt sich, dass in den technischen
Inventionen und Imaginationen ebenso allgemein gesellschaftliche wie
zutiefst persönliche und eben auch para-religiöse Motive stecken, wie wir
sie bei Kunst erwarten und erhoffen. "What hath god wrought!"  "Was hat
Gott bewirkt!", lautet das Bibelzitat, das Morse zur Einweihung seiner
ersten Telegrafenlinie dient. Und im weltweit ersten Text über die
Fotografie schreibt der Kunstkritiker Jules Janin: "Es gibt in der Bibel
die schöne Stelle: 'Gott sprach: es werde Licht, und es war Licht.' Jetzt
kann man den Türmen von Notre-Dame befehlen: 'Werdet Bild!' Und die Türme
gehorchen."

?: Mit dem Kanon ist es so eine Sache: alle lehnen ihn ab, aber jeder hat 
ihn auch im Hinterkopf. Und wundert sich, wenn generalisierende Aussagen 
darüber gemacht werden, dass die Kunst Entwicklungen in den Medien 
antizipiert hat, aber als Beispiele dafür eher randständige Künstler wie 
Villiers oder Daguerre genannt werden. Dass es in punkto Motivation der 
Schöpfer in Kunst und Medienentwicklung Parallelen gibt, mag ja sein, aber 
ich glaube nicht, dass das ein spezifisch modernes Phänomen ist. Und 
"zutiefst persönliche und eben auch para-religiöse Motive" erwarte ich von 
der Kunst überhaupt nicht; eher Anregung und eine kritische Perspektive auf 
die Gegenwart...

DD: Also ich glaube, zwischen uns gibt es ein Missverständnis zur Methode:
Sie verlangen einen repräsentativen Überblick, um eine allgemeine These zu
begründen. Soweit ist die Wissenschaft aber auf diesem Gebiet der
Interferenz von Kunst und Medien noch nicht. Ich liefere im ersten Teil
Stichproben und Fallstudien von 1795 bis ca. 1925, im zweiten Teil versuche
ich darauf basierende Theoriemodelle zu skizzieren. In beiden Teilen geht
es darum, den Status von Kunst gegen einen einseitigen Technikdeterminismus
zu verteidigen und die Wirkungsmacht des Ästhetischen (inner- und
ausserhalb der Kunst) wieder zu ihrem Recht kommen zu lassen. Deshalb kann
das Buch nicht auch noch ein "Who is who" von zweihundert Jahren
Kunstgeschichte liefern. (Es enthält aber einen ziemlich kompletten Abriss
der Geschichte der Telemedien.)

Im 19. Jahrhundert beginnt es mit symptomatischen Einzelfällen (übrigens
nicht nur aus der bildenden Kunst, sondern mit Baudelaire, Villiers, Verne
u.a. auch aus der Literatur) mit den Beginn des 20. Jahrhunderts
verbreitert sich die Basis zu einem transdisziplinären Kunstbegriff, der
von der Poesie des Futurismus bis zur Farbkomposition von Delaunay reicht,
und heute könnte man vermutlich in fast allen Bereichen der kulturellen
Produktion eine solche enge Wechselwirkung mit den medientechnischen
Rahmenbedingungen feststellen. Ein am Kanon orientierter Kunstbegriff klebt
immer an den Personen und bleibt deshalb blind gegenüber den übergreifenden
Entwicklungen, nur diese haben aber noch eine Wirkungskraft auf das
sogenannte echte Leben. Deshalb kein "Namedropping" von großen Künstlern
und Erfindern, ganz im Gegenteil sind es die anonymen Unbekannten, die
Amateure (heute Hacker, Nerds etc.) die als kritische Masse einen Umbruch
und Paradigmenwechsel in der Medienentwicklung auslösen, wie ich es am
Radioboom der 1920er und am Netboom der 1990er zeige.

Hinter unserem Missverständnis zur Methode verbirgt sich vermutlich einer
der entscheidenden Unterschiede zwischen Kunst und Medien: Der Ruhm eines
Künstler bleibt immer personalisiert, der eines Erfinders löst sich von
ihm, er objektiviert sich im Apparat und seiner Wirkung, so dass man
schliesslich vom "morsen" spricht, ohne dabei noch an S. F. B. Morse zu
denken.

  ?: Die Periode vor dem Ersten Weltkrieg, in der sich Künstler wie
Apollinaire, Marinetti oder Russolo für die Möglichkeiten neuer
Technologien und Medien interessierten und zum Teil auch begeisterten, ist
heute relativ gut dokumentiert und mehr oder weniger bekannt als das Labor,
in dem die meisten künstlerischen Konzepte ausgebrütet worden sind, die das
20. Jahrhundert geprägt haben. In ihrem Buch interessieren Sie sich unter
anderem für frühe "cross-media-Künstler" wie Apollinaire, Ruttmann
oder Russolo. Doch Ihr Fazit von deren Experimente fällt recht negativ aus:
"die Avantgarde-Utopien, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts die
Marginalität der Moderne durch Medien zu überwinden suchen, realisieren
sich nicht in Form autonomer Kunstwerke, sondern als Teil der populären und
industriellen Massenkultur. Der antizipatorische Charakter von Kunst wird
so zwar bestätigt - aber keineswegs ihr eigentliches, utopisches Ziel."
Überfrachtet man die Kunst nicht mit zu hoch gesteckten Erwartungen, wenn
man ihre Resultate an den Hoffnungen misst, die ihre Schöpfer im ersten
Überschwang der Gefühle formuliert haben? Und: muss es das Ende jeden
utopischen Gehalts sein, wenn ehemalige Avantgarde-Ideen zu Massenkultur
werden?

DD: Ich muss zunächst noch einmal betonen: Es geht mir nicht nur um eine
Geschichte medialer Kunstformen, sondern um mehr; einen neuen Blick auf die
Mediengeschichte aus der Perspektive der Kunst. Deshalb verfolge ich auch
im 20. Jahrhundert eine Parallelstruktur von Funktechnik und Film mit 
Dichtung und Malerei.
Die künstlerische Avantgarde erweist sich dabei als ein Wegweiser, der aber 
selbst den Weg
nicht geht. Sie antizipiert Wahrnehmungsformen, die heute zum medialen
Alltag gehören, wie etwa die globale Simultaneität und Omnipräsenz der
drahtlosen Kommunikation ( z. B. bei Apollinaire, Cendrars, Delaunay). Doch
die reale Implementierung ins "echte Leben", wie wir sie heute unter dem
Diktat der ständigen Erreichbarkeit via Handy und Mail fast schmerzhaft
erleben, kann Kunst nicht leisten. Tatsächlich konterkariert diese
Medienrealität sogar oft die utopisch-euphorischen Entwürfe der Künstler.

Hingegen wird die Medienentwicklung zwar von ästhetischen,
quasi-künstlerischen Motiven stimuliert ( z. B. bei den Funkamateuren und
den dichtenden Funkerfindern De Forest und Tesla) doch sie löst sich dann von
diesen Personen und Motiven um mit einer nicht mehr zu steuernden, brutalen
Eigendynamik die Welt zu verändern. Dabei wird sie nur noch von ökonomischen,
politischen und sozialen Kräften beschleunigt bzw. gestoppt, jedoch nicht
mehr von ihren ästhetischen Ausgangsmotiven. Wir habe dies im letzten
Jahrzehnt mit dem Boom und Crash des Internet-Hypes erlebt und
unsere Ur-Großeltern erlebten ähnliches mit dem Radioboom bis zur 
Weltwirtschaftskrise von
1929.

Für die Kunstavantgarde hingegen kann man von "Scheitern als Chance"
sprechen (frei nach Schlingensief). So wie die New Economy die Pionierphase
der Net.Art platt gewalzt hat, drängte der unerwartet große Erfolg des
Radios die frühen Ansätze zu einem Hörspiel-Kunstmediums an den Rand. Was
bleibt? Die Schönheit von uneingelösten Utopien, die darauf verweisen, dass
es auch anders sein könnte, als es in unserem banalem Medienalltag ist.

"Die Netzkunst wäre an ihren ureigenen Qualitäten gescheitert," haben Sie
Du in diesem Sinne in der aktuellen "Zeit" vom 28. Nov. Es ist ihr, ebenso
wie dem Hörspiel, dem Experimentalfilm und der Videokunst, nicht gelungen,
ihr mediales, ökonomisches und künstlerisches Kontext-System so zu
verändern, wie es in ihrem utopischen Projekt ursprünglich angelegt ist.
Doch das ist gut so, denn wäre dies geschehen, dann hätte die Kunst den
Realitätstest vermutlich ebensowenig bestanden, wie die Schlingensiefs
"Chance 2000", als sie von einem Kunstprojekt zur realen, wählbaren Partei
wurde.

?: In vielen kann ich Ihnen nur zustimmen, aber mir gefällt der Gedanke
nicht, dass künstlerische Utopien, die die Medien betreffen, immer
irgendwann automatisch von Wirtschaft und Politik planiert werden. Das
ist mir zu pessimistisch, und es gibt auch Gegenbeispiele: die Brechtschen
Radioutopien motivieren heute noch viele Piratensender. Die hatten in
Deutschland zwar nicht die Massenwirkung wie in andere Ländern, wo
Radiopiraten zum Teil ja sogar richtige Sendelizenzen bekommen haben, aber
wichtig ist es, dass solche Ideen im Umlauf sind und bleiben, und Leute
dazu motivieren, etwas anderes zu machen, als bloss zuzuhören und
zuzusehen.

Und gerade für die Kunst haben die Ideen der frühen Funkamateure sehr viel
länger vorgehalten als bis zum ersten grossen Radioboom in den 20er Jahren. 
Kraftwerks "Radioaktivität"-Album, die Solo-Platten von Holger Czukay, 
Scanners Gesamtwerk sind direkt oder indirekt von diese frühen Radioideen 
beeinflusst, aber auch zum Beispiel eine Komposition wie Stockhausens 
"Kurzwellen" oder diverse andere Stücke von den frühen Elektronikpionieren.


DD: Die Schlüsselrolle der Funkamateure für die Massmediaentwicklung ist
ebenso unbestritten wie das Fortwirken ihrer Ideale bis heute - inbesondere
in der Netz-Euphorie der 1990er. Doch bis heute sind alle Utopien zu einer
offenen, hierarchieloseren, nicht nur von den grossen "Sendern" bestimmten
Medienstruktur ebenso wie die entsprechenden künstlerischen
Avantgarde-Entwürfe immer nur Gegenmodelle zu den herrschenden
Verhältnissen geblieben. In bestimmten Umbruchphasen, wenn ein neues
Medienmodell sich ausformt (z.B. das "Broadcasting" oder das "World Wide
Web") verbinden sich künstlerische, technische und gesellschaftliche Ideen
und es scheint möglich zu sein, dass von nun an alles ganz anders wird.
Doch wenn diese Entwicklung eine "kritische Masse" überschreitet, verlässt
sie die Insiderkreise und wächst damit zugleich über deren Ideale hinaus.
Ihre Massenenwirkung setzt ein und die oben genannte Eigendynamik von
Wirtschaft und Politik breitet sich unaufhaltbar aus. In diesem Moment wird
klar, dass diese Ideen und Utopien zu einer neuen, anderen Funktion der
Medien letztlich eine grundsätzlich andere Gesellschaftsstruktur zu ihrer
Realisierung erfordern würden.

Deshalb bleiben diese Modellentwürfe insgesamt uneingelöst und ziehen
höchstens als "kleine Medien" ihre Kreise. Oder um es mit dem letzten Satz
von Brechts Rede zum "Rundfunk als Kommunikationsapparat" zu sagen:
"Undurchführbar in dieser Gesellschaftsordnung, durchführbar in einer
anderen, dienen die Vorschläge, welche doch nur eine natürliche Konsequenz
der technischen Entwicklung bilden, der Propagierung und Formung dieser
ANDEREN Ordnung." Die bleibenden Zeichen für diese uneingelösten Modelle
sind bis heute u.a. in der Medienkunst zu finden - die ja für uns beide den
Ausgangspunkt für das Interesse an historischer Medientechnikentwicklung
bildet. Insofern stimmt meine "zweite Hauptthese" durchaus mit Deinen
Beispielen von Stockhausen bis Scanner überein.

?: ?: Dass es im Internet aus ökonomischen Gründen keinen 
"Qualitätscontent" gibt, kann man wohl kaum behaupten. Das 
Inhaltsproduktion viel regelmäßig ausgegebenes Geld kostet, mag für 
tagesaktuelle Nachrichten oder ähnliches gelten. Aber wenn ich im Netz nach 
"hochwertigen Informationen" darüber suche, wie Kernfusion funktioniert 
oder wie die erste Platte von Kraftwerk heisst oder wie man Flammkuchen 
backt, werde ich in der Regel auf Seiten fündig, die nicht unter 
kommerziellen Gesichtspunkten entstanden sind, sondern von Universitäten, 
Musikfans oder heimatverbundenen Elsässern stammen. Nicht umsonst gehen die 
meisten Journalisten heute nicht mehr ins Archiv, wenn sie 
Hintergrundinformationen zu einem neuen Thema suchen, sondern "googlen". 
Und benutzen damit eine Suchmaschine, die ebenfalls nur zu einem minimalen 
Teil werbefinanziert ist.

Das Interessante am Internet ist doch gerade, dass dieses globale Archiv 
ohne Businessmodell, GEZ-Gebühren und freundlicher Unterstützung des 
Hauptstadtkulturfonds entstanden ist, sondern zum grossen Teil aus 
Eigeninitiative, "Unterhaltung", "Leidenschaft", "Selbstzweck". Und, wie 
gesagt, dass das so ist, ist quasi ins Netz einprogrammiert, propietäre 
Modelle mit eingebauten Pay-Knopf wie zum Beispiel BTX sind dagegen lange 
gescheitert. Damit soll nicht gesagt sein, dass das für immer so bleiben 
muss oder dass die Produktion von Content nicht auch unterstützt und 
finanziert werden sollte. Aber im Augenblick funktioniert es auch so noch 
ganz gut, wie eine Netzrecherche zu einem beliebigen Thema (oder das Surfen 
durch ein Filesharing-System) beweisst. Die Hackerparole "Information 
should be free" hat sich glänzend durchgesetzt. Sie hat zwar keine 
vollkommene Revolutionierung von EigentumKapitalismusBlaBlaBla ausgelöst, 
aber es hat andere Konzepte von Tausch, Kooperation, Partizipation möglich 
gemacht, die nicht in erster Linie von ökonomischen Zwängen gesteuert 
werden und das alte Showstopper-Argument entkräftet, dass man ohne eine 
andere Wirtschafts- und Gesellschaftsform nicht anders handeln kann als 
ökonomisch.

DD: Was den heutigen Stand der Dinge von Informationsfreiheit im Netz 
betrifft, sind wir uns glaube ich einig. Doch mir geht es um die 
langfristige Perspektive, denn es gibt viele Versuche zur Schließung der 
Offenheit, politische Zensur (von China bis USA) ebenso wie 
Wirtschaftsstrategien (zB die User komplett in der AOL Welt zu halten). Der 
Niedergang der New Economy hat derzeit für eine Atempause gesorgt, aber ich 
bin mir nicht sicher, wie das Netz in zwanzig Jahren aussieht.

Doch grundsätzlich versuche ich ja zwei Arten von individueller Autonomie 
gegenüber den Medien zu unterscheiden: der "Medienamateur" konstruiert 
seine eigene technische Basis und arbeitet aktiv mit dem Medium, der 
"Medienflaneur" umgeht als mobiler Rezipient die vorgegebene Inhalte, indem 
er die Kanäle neu kombiniert. Letzteres wird es immer geben, wie das 
Zapping durch Kabel- und Satelliten-TV zeigen, steigt der Fun-Faktor sogar 
mit der Kommerzialisierung. Von den Funkamateuren bis zu den Hackern ist 
die aktive Rolle der "Medienamateure" bei der Konstruktion des Mediums 
jedoch meist vom industriellen Mainstream an den Rand gedrängt worden, oder 
sie wurden als neuer Markt kommerzialisiert und zugleich gezähmt.

Es geht mit aber auf keinen Fall um eine Neuauflage der Kulturkritik an den 
Medien, ganz im Gegenteil, diese verkennt eben den Faktor, dass 
Medientechnik immer schon "Unterhaltung", "Leidenschaft" und "Selbstzweck" 
war, von der "Daguerrotypomanie" die nach der Bekanntgabe der Erfindung der 
Fotografie 1839 ausbricht bis zum Filesharing und der Demoszene. Deshalb ja
meine These, dass die "Amateure" von der Kunst zu den Medien übergelaufen 
sind. Der Enthusiasmus, mit dem dereinst Kunstliebhaber den großen Meistern 
nacheiferten, wird heute in die Perfektionierung eigener Medienprodukte, 
von der Homepage bis zum Urlaubsvideo, gesteckt.


?: Wie das Netz in zwanzig Jahren aussieht, ist in der Tat schwer 
abzusehen. Aber in Ihrem Buch steht, dass die "ehemals künstlerische 
Motive" und Amateur-Utopien zwar zur "Evokation neuer Medienformen wie dem 
Radioboom oder dem Netboom" führen, "wobei ihre Utopien jedoch durch die 
industrielle Eigendynamik zugleich widerlegt werden". Das bezieht sich 
eindeutig auf das Internet der Gegenwart, und da sehe ich diese Entwicklung
noch nicht. Es wird zwar zu kommerziellen Zwecken genutzt, aber es gibt 
eben auch noch einen großen Bereich, den man unter "public domain" oder 
"information should be free" fassen könnte. Darum wäre ich da mit 
historischen Vergleichen und generalisierenden Thesen vorsichtig. Im
Gegensatz zum Radio gibt es beim Internet eben eine unbegrenzte Bandbreite, 
und darum sehe ich auch keinen Grund, aus dem diese Informationsquellen 
verdrängt werden sollten...

Und damit zur letzten Frage: Im Gegensatz zum Radio, das von Künstlern 
vorweggenommen und künstlerisch vorbereitet worden ist, haben Vorstellungen 
von globaler Vernetzung in der bildenden Kunst vor dem Aufkommen des 
Internets nur auf einer sehr abstrakten Ebene eine Rolle gespielt Wie 
erklären Sie sich, dass die Kunst diese Entwicklung quasi verschlafen hat 
und erst aufgesprungen ist, als das Internet zum Massenmedium wurde?

Dieter Daniels: In der Mailart von Ray Johnson und globalen Projekten wie 
dem "Spatial
Poem" von Mieko Shiomi werden schon in den 1960ern mittels der guten alten 
Post durchaus Idee und Praxis einer Kunst der Vernetzung antizpiert. 
Mittels technischer Medien realisiert dann beispielsweise Paik in dem Video 
"Global Groove" 1973 die Vision eines weltweiten TV-Netzes (deswegen 
schmückt ein Still daraus auch das Buchcover). 1984 vernetzen Kit Galloway 
und Sherrie Rabinowitz Los Angeles durch ihr "Electronic Cafe" mit 
öffentlichen, multimedialen Terminals, 1991 eröffnet "The Thing" ein 
BBS-Netz von privat-öffentlicher Kommunikation, noch bevor der heimische 
Internet-Anschluss zur "commodity" wurde. Es fehlt also nicht an Projekten, 
die auf verschiedenen technischen und konzeptuellen Ebenen Realität und
Idee der Vernetzung erproben und erkunden.

Doch all das wird im Buch nur am Schluss angerissen, denn es geht ja um 
"Kunst als Sendung". Um solchen Ansätzen gerecht zu werden, müsste man aber 
ebenso eine weitreichende Parallele von Technikgeschichte und 
Kulturentwicklung untersuchen: beispielsweise das Cage 1972 in einem 
Interview schon eine technisch sehr konkrete Netz-Idee formuliert und vier 
Jahre darauf Deleuze und Guattari mit dem "Rhizom" ein epistemisches Modell 
heutiger Netzkultur entwickeln. Um solche erstaunlichen Dinge zu 
untersuchen, wäre wohl ein zweites Buch nötig und vielleicht schreibe ich 
das ja in diesem Leben noch. Solche Grundlagenforschung braucht ihre Zeit, 
im Fall des vorliegenden Bandes waren das fünf Jahre. Falls es also je eine
Fortsetzung geben sollte, dann können wir ja auch unseren Streit über die 
Zukunft des Netzes auf neuem Stand fortsetzen.

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