Claus Pias on Thu, 12 Jun 2003 21:52:26 +0200 (CEST)


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[rohrpost] Der Zustand der Medienkunst (FAZ)


Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 128 (4.6.2003), S. 37:


Agonie im Netz
Volkes Geschmack: Die ersten “Medienkunsttageł in Bad Ems


Was Medienkunst ist, weiß heute jeder. In Schwierigkeiten gerät man nur bei
der Erklärung, was damit eigentlich genau gemeint sein soll. Soviel ist
gewiß: Sie tritt im High-Tech-Look auf, ist manchmal interaktiv und
demonstriert dann und wann die Tücken der Technik, indem sie den Dienst am
Betrachter verweigert. Daß der Bildschirm dunkel oder der Lautsprecher stumm
bleibt, kommt allerdings in den besten Museen vor, nicht nur in der kleinen
Ausstellung “art bytesł im “Schloß Balmoralł, einem Künstlerhaus im mondänen
Kurort Bad Ems an der Lahn. Die historistische, 1867 im Stil der Renaissance
erbaute Villa Diana wurde vor einigen Jahren von der Stiftung
Rheinland-Pfalz zu einem Atelierhaus für Stipendiaten umgewidmet ­ eine der
schönsten Neueinrichtungen der Region, wie der Ministerpräsident stolz
bemerkte. Eingeladen werden seitdem vor allem Maler und Bildhauer.

In dem stattlichen Haus werden zunehmend aber auch Künstler willkommen
geheißen, die sich in den neueren Bildmedien umtun. Wer in Bad Ems gefördert
wird, muß sich indessen einer wohltuend kritischen Befragung stellen, wie
nun die ersten “Medienkunsttageł deutlich ge- macht haben. Medienkunst ­ das
Wort versahen die Redner, ob Künstler, Vermittler oder Theoretiker, im
vollbesetzten Marmorsaal im “Staatsbad Bad Emsł stets mit Anführungszeichen,
schmeckt der Begriff doch nach Avantgarde-Klischees, die längst passé sind,
und bemäntelt er doch oft genug nur die “schamlose Plünderung früherer
Stilformenł im Gewand einer technisch aufgerüsteten Darstellung.

Darin aber könne sich seriöse Kunst nicht erschöpfen, wenn sie den “blinden
Fleckł des eigenen Mediums ausleuchten und nicht nur mit technischem
Firlefanz beeindrucken wolle, gab Georg C. Tholen zu verstehen. Anstatt nur
auf das Neue zu blicken, empfahl der Basler MedienwissenschaftIer, die “noch
nicht abgegoltenenł Ansätze aus der Frühzeit des Videos genauer unter die
Lupe zu nehmen. Darin zeigten sich unerschöpftePotentiale, welche die
Wahrnehmung und ihre Paradigmen vor Augen führten.

Auch in Bad Ems wurden Nachrufe auf die “Net.artł, die Kunst im Internet,
gehalten, wobei die Trauer über den Tod der jungen Strömung im Ton
betriebsmäßiger Routine vorgetragen wurde. Der “Netzkunstł sei es gar nicht
um das Raffinement auf der Oberfläche gegangen, so Gerrit Gohlke vom
Künstlerhaus Bethanien aus Berlin; eine ästhetische Sprache habe sie nie
hervorbringen wollen. Netzkunst sei vielmehr ein programmatischer Bruch mit
der “sich selbst beschleunigenden Musealisierungł der jungen Kunst gewesen.
Schade nur um ihre Utopien: mitmischen zu können “im Zentrum einer
elektronischen Revolutionł, sich gar als Korrektiv ins Spiel zu bringen für
eine fehllaufende “ökonomische und politische Kulturł. Solche
Fehlentwicklungen liegen dann vor, wenn sich unbemerkt soziale Regelungen
von Kontrolle und Begehren einschleichen.

Ein Beispiel schilderte Annett Zinsmeister (Berlin) anhand eines populären
Computerspiels, das in Kürze online gehen soll: die “Sims Communitył, eine
virtuelle Stadt im Internet. In dieser Polis wird jeder zum Architekten und
Inneneinrichter und kann sich so den Traum vom schöneren Leben mit “Computer
Aided Designł erfüllen. Als sich die Referentin in das Spiel vertiefte,
entdeckte sie in der durchrationalisierten, gerasterten Welt nicht nur
Vorbilder, die bis in die Antike zurückreichen. Das Unangenehme ihrer
Erfahrung bestand darin, daß sie sich dem Ge- schmack des Volkes fügen
mußte, um das Gefühlsleben der Gemeinschaft nicht auszuhebeln. Die von ihr
ausgewählte Einrichtung mit Bauhaus-Möbeln führte nämlich zu “Depressionenł
unter den übrigen Bewohnern, die sich erst durch die Wahl eines neuen
Mobiliars ŕ la Gelsenkirchener Barock beheben ließen. Darin gebe sich das
“Kitschdiktat des Programmierersł zu erkennen, der die Avatare seinem
eigenen Gusto unterwerfe. Gerade für Künstler, so Zinsmeister, sei dieses
Spiel ein Lehrstück, wie sehr eine vorgefundene Software die ästhetischen
Möglichkeiten vorprägen und eingrenzen könne. Die “Objektbibliothekł als
Formenrepertoire, auf das man mühelos zugreift, sei ein verführerisches
Instrument der Beeinflussung. Auch ihr Resümee hätte von Vilém Flusser
formuliert sein können: Bloß nicht den Verlockungen der Möglichkeiten
erliegen, sondern die Werkzeuge dem üblichen Gebrauch “entwenden und
entfremdenł. 

GEORG IMDAHL 

 


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