andreas seidel on Mon, 14 Jul 2003 01:05:41 +0200 (CEST)


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Fw: [rohrpost] Re: Inhalt und Form (was: neues deutsches kulturerbe)


Danke für die Kritik Herr Dr. Freistedt und das Interesse an unserem
Firlefanz.

Das mit der Form der Homepage trifft es natürlich exakt. Hab von dem Medium
keine Checke. Und der, der es gemacht hat, nicht viel mehr. Dass Sie unsere
Source-Lektuere zum Kotzen anregt, dazu denk ich mir was.

Die Berliner Mauer mag ein schwachsinniges Bauwerk gewesen sein, jedenfalls
prägte sie in nicht unerheblichem Maße die Entwicklung beider deutscher
Staaten. Da mag man schon mal von einem Mythos zu sprechen wagen und sich
dazu etwas ausdenken, was (frei gedacht) mit vorgeschichtlich (vom heute aus
besehen) zu tun hat, mit (noch freier gedacht) Weltenentstehung in
Zusammenhang gebracht werden könnte, auch Legenden berührt und auch
bedeutsame Begebenheiten zur Folge hatte. Von einer falschen Verwendung der
Begrifflichkeiten kann überhaupt keine Rede sein. Vielleicht überführen wir
originär exakt zugewiesenen Begrifflichkeiten in fremde Disziplinen. In der
Architektur werden schon seit längerem Begrifflichkeiten aus der Biologie
etc. verwandt. Ihr bildungsbürgerlicher Purismus langweilt.

Ja, an der Mauer sind eine große Anzahl von Leuten getötet worden. Dieses
Moralapostelargument ist so ziemlich abgegriffen. Ist der neue Film "Voll
Frontal" von Soderbergh genauso verdammenswert wie unsere "Zeitgenössische
Mauer", nur weil er auch ein Theaterstück mit Hitler in der Hauptrolle zeigt
und das Bild von Hitler, das da entworfen wird mit Vergackeierung zu tun
hat.  Die Intention des Bastelbogens bestand (seit April 2003 und vor dem
Hintergrund des Krieges im Irak) darin, ein diktatorisches Werkzeug mit
freier Meinungsäußerung zu kombinieren. Ich komme aus dem Westen. Für mich
war die Mauer immer zweierlei. Totalitäres Unterdrückungsinstrument
zuvorderst, aber auf Westseite auch unzensierbare Ausdrucksform für was auch
immer. Letztendlich reizte uns diese Ambivalenz und die Provokation, uns an
einem (im negativen Sinne) geheiligten Unding zu vergehen. Mann! Gehen Sie
doch mal in die Touristen-Läden am Checkpoint Charlie oder entlang Unter den
Linden, was Sie da an Mauer-Devotionalien vorfinden ist pure Abzocke.
Dagegen begreifen wir uns als innovativ.

Wie sie die Auswirkungen unserer "Mauer" in Bezug auf ihren
Verdauungsapperat beschreiben, bekomme ich fast schon Schuldgefühle. Hoffe,
Ihr Magengeschwür hält sich noch etwas zurück. Auf jeden Fall ist das "Neue
Deutsche Kulturerbe" im Zusammenhang mit dem vereinigten Deutschland zu
sehen. Oder halten Sie es nicht für angebracht, einige der sozialistischen
Errungenschaften oder besser Hinterlasssenschaften in das nationale
Kulturerbe einzuverleiben. Was spiegelt anschaulicher die Leistungen der DDR
wieder, als Plattenbauten oder auch die Mauer? Das betraf JEDE und JEDEN. In
den Auswirkungen auf die deutsche Psyche viel prägnanter als Seghers, Levins
Mühle oder Franziska Linkerhand, etc. Schauen Sie sich mal Werbung für die
junge Generation an. Fällt Ihnen da was auf?

Mit freundlichen Grüßen Ihr Andreas Seidel
----- Original Message -----
From: "Dr. Bernd Freistedt" <bf@bfrei.net>
To: <rohrpost@mikrolisten.de>
Sent: Thursday, July 10, 2003 7:26 PM
Subject: [rohrpost] Re: Inhalt und Form (was: neues deutsches kulturerbe)


Zur Form zuerst:
Man nehme NetObjects Fusion 5.0.2 für Windows und lasse mit diesem
sonderbaren Werkzeug ein paar HTML-Codes entstehen, bei deren
Source-Lektuere einem ganz uebel wird, u. a. weil dieser ein
Mehrfaches als notwendig lang wird. Obendrein wird die simpelste
Schrift als gif serviert, was den Seitenaufbau sinnlos spannend macht.
Gewaltiges Rauschen wird generiert.
So findet auf diese Weise historischer Schwachsinn in ein Medium,
ein digitales noch dazu.

Bei Lichte betrachtet, handelt es sich nur um schlappe Werbung fuer
ein Produkt.

* andreas seidel <a.seidel@xzcute.com> [030710 15:10]:
> www.xzcute.com präsentiert die "Zeitgenössische Berliner Mauer".
>
> Wie sähe die Berliner Mauer aus, wenn sie heute noch stünde?

Wie saehen Goethe und Schiller heute aus, wenn sie noch leben wuerden?
Mein Gott! Haben wir nichts anderes zu tun, vielleicht irgendetwas
annaehernd relevantes?

> Die Wiederverwertung nationaler Mythen und Symbole ergibt das "Neue
Deutsche
> Kulturerbe".

Dieser Beton war das Baumaterial fuer Ulbrichts Ghetto. An dieser
Stelle wurde gestorben, und Ihr macht einen Firlefanz daraus.

Die falsche Verwendung solcher hehren Termini wie "Mythen" und
"Symbole" in diesem Zusammenhang bessert nichts am Inhalt.
Ist eigentlich klar, was ein Mythos ist? Vorsicht bei Fremdwoertern.

Ein "Neues Deutsches Kulturerbe" ist dieses Fabrikat nicht und
sollte besser auch in den Koepfen nicht daraus werden.

Was wird denn nun "wiederverwertet" (dem Germanisten dreht das Wort
den Magen herum)? -- Ich weiss es nicht, mir hat sich's nicht
erschlossen.

Gedanke: Unreflektierte Experimental-"kunst"?
Kunst kommt von Koennen, nicht von Wollen, sonst hiesse es Wulst.

Und wo es ueberall zu haben ist (neben allen Berliner Stadtbezirken
und 4 deutschens Staedten): London, Toulouse, Paris... Donnerwetter!
Die Besucher des Centre Pompidou werden sich den Bauch halten vor
lachen ueber die Bouches...

Gruss
Bernd
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