geert lovink on Sun, 21 Dec 2003 01:10:42 +0100 (CET)


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[rohrpost] rohrpost abriss für lettre (ungekürzte fassung)


Rohrpost im Herbst
Oder das Schweigen der Medientheoretiker

Von Geert Lovink

Für Lettre International, November 2003

"Nie ist das Leben angenehmer als im Niedergang, wenn die gebremste
Vitalität mit der süßen Pflege seiner Traditionen kompensiert wird." (Pascal
Bruckner)

Anfang Oktober tobte auf Rohrpost, der "deutschsprachigen Liste zur Kultur
digitaler Medien und Netze," eine raue Schlacht über Rausch und Zensur. Der
zehntägigen Kleinkrieg könnte sehr wohl die hiesige Netzlage verkörpern. Die
Diskussionsmuster während solcher online Streitigkeiten sind mittlerweile
bekannt. Provokateure, im Netzjargon 'trolls' genannt, stellen die
Toleranzgrenze der Teilnehmer auf die Probe, in dem sie hunderte von Mails
voller Gelaber an offenen Foren schicken. In meinem jüngsten Buch My First
Recession habe ich ein solches Trollendrama auf der Syndicateliste
analysiert. Was mir beim Rohrpostfall auffiel, war die Abwesenheit die
Zurückhaltung der Intellektuellen. Deutschland, wo sind deine begabte
Medientheoretiker? Warum ist die kollektive Netzkompetenz nachwievor so
gering, dass eine handvoll Gelangweilter ein, im Grunde interessantes,
Kommunikationsprojekt in Geiselhaft nehmen, und potentiell zunichtemachen?

Ich fragte die Listbetreibern Florian Cramer, Tilman Baumgärtel und
Mitbegründer Andreas Broeckmann nach der mangelnden Zivilcourage, solche
trolls in den Griff zu bekommen. Warum sind 1500 Beteiligten nicht in der
Lage, solche Übergriffe zu verhindern? Auseinandersetzungen um die
Netzarchitektur könnten im Prinzip voller Ironie und in diskursivem Stil
geführt werden. Leider aber besitzen trolls weder Argumente noch Witz. Der
Auseinandersetzung fehlt jegliche Rethorik, und er wird von einer diffusen
Frust dominiert, die rasch in verbalen Gewalt umschlägt. Die Netzkultur ist
angeblich noch zu fragil, um solchen Aggressionswellen mit Gelassenheit zu
begegnen. Kulturelite und akademische Führungskreise warten gespannt auf den
determinierten Untergang des Netzes und sehen sich bestätigt im
Kierkegaardschen Schicksalsglaube, demokratische Meuten brächten nur
Unmengen an Datenschrott hervor, wenn ihnen die Freiheit gegeben wird zu
kommunizieren. Die Moral der Geschichte wäre, Medien, ob alt oder neu,
brauchen Betreuung von denen die wissen was gut fürs Volk ist. Ein Netz ohne
celebrities führe nur zu unproduktiver Anarchie. Derartigen Streitigkeiten
in den newsgroups, Listen und weblogs kommt daher eine symbolische Bedeutung
zu, die weit über die Rohrpostepisode hinausgeht..

Im Herbst 2003 schien die gesamte Netzlage eh extrem. Weltweit wurden
Emailboxen von Viren und Spam belagert. So verursachte z.B. das Sobig.F
virus innerhalb eines Tages 200-300 E-Mails in der
Rohrpost-Moderationsschlange. Kurz vor der Explosion hatte es auf Rohrpost
noch eine lebendige Diskussion über den Niedergang der Onlinezeitschrift
Telepolis gegeben, angefeuert von Florian Cramers Bemerkung, Telepolis sei
zu einer "antiamerikanischen, paranoiden Polit-Postille" geworden. Ende der
neunziger, während des Dotcomhypes, spielte Telepolis eine wichtige Rolle
als Multiplikator von Diskursen über Netzkunst und -kultur, Hackerkultur und
freies Wissen. Eigentümer Heise Verlag subventionierte freie Journalisten
und Autoren, gerade aus dem Rohrpostumfeld. "Es ist auf jeden Fall eine
Lücke entstanden, die meines Wissens bisher nicht gefüllt worden ist," so
Vali Djordjevic auf Rohrpost.  "Es gibt kein deutsches Online-Magazin, daß
kompetent und lesbar über Netz- und Medienkultur schreibt. Mir fehlt das in
meiner täglichen Lektüre."

Rohrpost als freies Netzforum habe das Telepolisloch aber nicht gefüllt.
Netzjournalist Tilman Baumgärtel liefert dafür eine mögliche Erklärung: "Ich
habe keine Zeit, unbezahlt Weblogs zu führen oder mich ununterbrochen auf
Mailinglisten zu äußern, ich muss einfach Geld verdienen, und das ist z.Z.
nicht leicht, wenn man auf solche Themen wie ich spezialisiert ist. An
längere Texte ohne Bezahlung ist schlichtweg nicht zu denken." Essays,
Interviews und substantielle Diskussionsbeiträge erscheinen nur sporadisch.
Rohrpostbeiträge bestehen hauptsächlich aus Ankündigungen für
Veranstaltungen, Ausstellungseröffnungen, Parties und neue Webprojekte.
Interessanter Vergleich wäre hier die Oekonuxliste, wo seit vier Jahren
hauptsächlich männliche Programmierer linker Herkunft tüchtig über freie
Software als Gesellschaftsmodell diskutieren (www.oekonux.org). Obwohl
Deutsche Medientheorie und elektronische Kunst im internationalen Vergleich
eine rege Produktion und hohes Niveau aufweisen, fehlt es an online Foren in
denen neue Medienthematiken ohne Hemmungen durchdiskutiert werden.

Der Rohrpostaufruhr begann am ersten Oktober mit einem chat-artigen
Austausch zwischen den trollen SaB, Braan, signifikant, Matze Schmidt und
brsma an, die sich gegenseitig kurze Sätze zuschossen. In kurzer Zeit wurden
Dutzende von emails an die gesamte Liste verschickt. Die Reaktion ließ nicht
lange auf sich warten. "Ich habe mit diesem Mist, der in der Liste hier
abläuft, nichts zu tun." "Wer braucht eigentlich klugscheisserflamewars?"
Joachim Budeck und andere forderten sofortiges Filtern durch die
Moderatoren: "Rohrpost is wie Kaffee-schmeckt gefiltert einfach besser."
"Warum ist das was an Kommunikation hier gerade ist so ein Kindergarten?"
fragte sich Fabian Koesters. Ein gewissen PhLo aber nervte die ganze
Netiquette. "Nur weil sich auch Menschen tummeln, deren Leben nicht nur aus
hochernster Theorie und wichtigen Netzkunst Projekten besteht, sondern auch
ein paar-wenn auch nicht wirklich gute Clowns-finde ich den Ruf nach 'harter
Moderation' nicht nur ein klein wenig übertrieben." Die Empörungswelle wuchs
trotzdem an. Strategie der trolls ist es, virtuelle Gemeinschaft zu spalten.
Foren wie Rohrpost sind ein ideales Terrain für diejenigen, die live
sozialen Experimente durchführen möchten. Hauptgewinner meldete sich:
"Gewalt ist leider manchmal doch die beste Lösung für orientierungslose
Kinder, die glauben auch noch ihre Mitmenschen zwangsweise über ihren Müll
informieren zu müssen. Geht in die Chatrooms bei Bravo, Brigitte, Beate Uhse
und Spiegel, ihr Ficker!" Maria Schmucker dagegen blieb nüchtern und schlug
vor, Rohrpost könne vielleicht parallel einen Chat betreiben um die ganz
spontanen Kommunktionsbedürfe zu befriedigen." Die Kontroverse führte nicht
zu einer Apotheose sondern flaute langsam ab, ohne eindeutige Lösung.

Wintermute beschreibt auf literarische Art, wie so eine Eskalation anfängt.
"Der Depp wollte lustig sein, oder möglicherweise einfach nur so ein Depp.
Jedenfalls musste er allen beweisen, dass er echt ein Depp war. Jedesmal
wenn er's allen bewies, dachten sich alle: Ja so ein Depp. Da reagiere ich
mal lieber gar nicht. Hunderte Leute taten nichts, weil sie ja keine Deppen
waren. Hunderten waren schlau genug, dem Deppen nicht die Aufmerksamkeit zu
schenken, nach der er sich ganz offenbar doch sehr sehnte. Einer plonkte den
Depp, da dachten alle: Na, jetzt ist der Depp geplonkt, jetzt wird's wohl
mal gut sein. Der Depp dachte aber, es wäre möglicherweise noch einer da
draussen, der nicht begriffen haben könnte, was für ein kapitaler Depp er
sei. Da schiss er den andern wieder kräftig in die Mailbox."

Wie üblich verlor Rohrpost rasch Mitglieder. 1450 Mitglieder waren es mitte
Oktober, 1600 noch im Sommer. Dbrinckmann fordert: "Raus mit den Deppen, ihr
Basisdemokraten! Toleranz hat bei Dummköpfen noch nie was genützt und
kleinen Kindern muss man eben mal den Hintern versohlen." Moderator Timan
Baumgärtel reagierte folgendermaßen: "Ich habe irgendwann aufgehört zu
zählen, wie oft unsere dreieinhalb hauptberuflichen Rohrpost-Deppen nun
schon versucht haben, die Liste zuzumüllen und sich dann als Opfer von
Zensur darzustellen, wenn andere davon genervt waren und das geaeussert
haben." Nachdem signifikat Tilman als Arschloch bezeichnet hatte trieb die
Liste weiter ab. Stephan Huber schickte die alte Netzweisheit herum, man
solle doch bitte nicht die 'trolls' füttern. Den troll SaB, der unter
verschienende Namen operierte, aber machte einfach weiter: "Frieden erst
wenn Pillerman blutend am Boden liegend ausgezählt ist!" Verzweifelt über
die Ohnmacht schreibt einer "Sab und ultanerd sind vom Tatbestand des
Nervens zur Beleidigung und sogar-im Fall von sab-auch der persönlichen und
listenöffentlichen Diffamierung übergegangen. Wenn das nicht Grund genug
ist, jemanden von der Liste auszutragen, dann weiss ich auch nicht." Aber
nichts passierte. Susanne Schmidt schlug vor, Benutzern sollten doch bitte
selbst die trolls wegfiltern: "Wozu moderieren, wenn ich das selbst
wegfiltern kann? Eine Moderation überlässt dem Moderator, wer rauszufiltern
ist. Mein eigener Filter filtert, was ICH will. Das kann jeder Emailclient."

Tilman Baumgärtel klärt die Liste über das Identitätsspiel eines gewissen
Guido Braun auf, der gleichzeitig als signifikant und Ultranet auftaucht.
"Braun hat sich als zwei Adressen eingetragen und antwortet auf sich selbst.
Urkomisch, nicht? Den Namen Guido Braun sollte man sich also unbedingt
merken, wenn man auf hochkarätiges Internet-Entertainment steht." Marian
Bichler interpretiert Guido Braun als "fröhlicher Schizo, wo der eine Teil
nichts weiß von der Existenz des anderen Vergnügen wäre allerdings größer,
wenn die erregten Gemüter ihre stumpfen Klingenkämpfe durch pure Lust auf
wilde Konversation und sprachliche Extase aufpolierten."

Gisela Müller stellt den Schlagabtausch in einen grösseren
medientheoretischen Zusammenhang: "Hier zählt jedes Tor, egal wer es
schießt. Eigen/fremd, das gibts nicht bei dem Spiel. Die Regeln sind
ziemlich schwer durchschaubar, wahrscheinlich gar nicht. Schiedsrichter
gibts auch keine. Wer mitspielt und wer nicht mitspielt lässt sich mit
Sicherheit nicht sagen. Auch die ZuschauerInnen sind IM Spiel. Netzkultur
pur. Ein spiel im Flusserschen sinne: 'der Mensch ist nur noch mit der
Spielzeugseite des Apparats beschäftigt.' und: 'Das Apparateprogramm muss
reich sein, sonst wäre das spiel bald aus.'-inklusive Risiko, daß der
Apparat = die [rohrpost] kaputt geht beim spielen."

Der Direktor des Medienfestivals transmediale, Andreas Broeckmann, nennt als
einen Grund für das Durcheinander auf Rohrpost das gebrochene deutsche
Verhältnis zu Macht- und Autoritätsfragen. "Diese ganze 'antifaschistische
Oedipuskiste' in die die 'jungs' da ihre Nägel dreschen, ist durch die
deutsche Mentalitätsgeschichte mit geprägt, und zwar sowohl in der
unsicheren Reaktion der Moderatoren, als auch in der verbalen Gewalt der
Pubertierenden." Andreas Broeckmann hält die Rohrpostepisode nicht für
repräsentativ bezüglich der Lage der deutschen Netzkultur und verweist auf
erfolgreiche Netzprojekte wie Betacity, verybusy und Fluter. "Auch die
Rohrpost sieht im detail ganz anders aus, da sind die Diskussionen über
Linux, Copyright und Privatkopie durchaus lebendig. Die Abwesenheit eines
'Master-Diskurses' auf der Rohrpost bedeutet noch nicht, daß es einen Mangel
an Reflexion gibt. Aber die Szene ist recht klein und man schottet sich
immer noch, in guter alt-linker deutscher Tradition, lieber voneinander ab,
als in einen konstruktiv-kontroversen Diskurs einzutreten."

Was Tilman Baumgärtel an der ganzen Geschichte überrascht hat, "war die
Rücksichtslosigkeit, mit der eine quasi-öffentliche Infrastruktur von zwei,
drei Idioten als Plattform für ihre Selbstdarstellung und ihre Haßkampagnen
instrumentalisiert wurde." Trotzdem relativiert er die Rohrpostprobleme."Das
Phänomen, daß Leute, die zu viel Zeit oder persönliche Probleme haben, einer
öffentlichen Infrastruktur wie eine Mailingliste nutzen, um andere zu
nerven, ist ungefähr so alt wie das Internet." Wie Andreas Broeckmann möchte
er dafür warnen, das Verhalten von zwei, drei Deppen als symptomatisch für
die 'Deutsche Netzkultur' zu betrachten. Tilman: "Diejenigen, die bei
solchen Debatten mitmischen, fehlt die internationale Erfahrung mit solchen
Konflikten wahrscheinlich, und darum finden sie sie auch so toll. Ich sehe
mich als Rohrpost-Moderator selbst nicht als irgendwie hervorgehobene
Person, aber bei solchen Gelegenheiten merke ich plötzlich, daß da Leute
meinen, ein Hühnchen mit mir zu rupfen zu haben, von denen ich noch nie
etwas gehoert habe." Was in diesem Zusammenhang auch immer eine Rolle
spielt, ist die Berlin-versus-den-Rest-der-Republik-Thematik. Tilman:
"Offenbar glauben viele, dass wir in irgendeiner Form Berliner bevorzugen
würden. Wenn ich mit Rohrpost-Abonnenten rede, habe ich immer das Gefühl,
daß die denken, wir sind so eine Art Redaktion. Viele haben im Grunde bis
heute das Prinzip einer Mailingliste nicht verstanden."

Laut Rohrpostmitbetreiber und Literaturwissenschaftler Florian Cramer sind
die meisten Abonennten keine Computer- und Netz-Profis, anders als z.B.
hackerkulturell sozialisierte Diskutanten in Freie Software-Newsgroups,
sondern stammen aus dem herkömmlichen Kulturbetrieb. Mit über 1500
Subskribenten sei die Liste so anonym geworden, daß sie Vandalismus anziehe,
den komplexe (und daher anonymisierte) Sozialsysteme offenbar provozieren.
Bleibt aber die Frage, warum deutsche Intellektuelle ihre
Auseinandersetzungen nicht im Netz austragen. Weswegen ist das
Allgemeinwissen über die Netzdynamik so gering? Cramer bestätigt, das
Rohrpost ist in dieser Hinsicht ein bemerkenswerter Fall ist, da ihre
Subskribenten-Liste sich teilweise sich liest wie eine Who's Who der
deutschsprachigen Medienkünste und -wissenschaften, die aber bisher keine
eigenen Listenbeiträge schrieben. Diejenigen die es besser wissen sollten,
schweigen und beklagen sich später über den plebeischen Charakter der
Netzdialoge . Warum ist der Diskussionsbedarf angeblich so hoch im Land des
Feuilletons, im Falle des Internet nicht vorhanden? Ein vorhandenes Publikum
kann, mit fast zwanzig Millionen Deutschsprachigen Internetbenutzern, kaum
noch als Argument benutzt werden. Florian Cramer fügt noch hinzu, dass das
Niveau aller ihm bekannten nicht-anglophonen europäischen netzkulturellen
Mailinglisten niedrig sei. In dem Sinne könnte man auch über eine
Euronormalisierung reden. Im Falle der Netzkultur gäbe es endlich mal keinen
deutschen Sonderweg.

Tilman Baumgärtel möchte sowieso das Konzept der 'Netzkultur' hinterfragen.
"Das Netz hat seine Kraft als identitätstiftende Entität wohl weitgehen
verloren, seit Internetzugang nicht mehr das Privileg einer kleinen Gruppe
ist. Natürlich gibt es Leute, die sich fuer dieses ganze Themenfeld Internet
jenseits von Langeweile-Chats-Am-Arbeitsplatz und Internet-Pornographie
Interesse aufbringen, aber wer von denen würde sich als Teil einer
'Netzkultur' begreifen?" Hier rächt sich die traditionelle Herdenmentalität,
die von der Popkultur durch Printmedien und das Fernsehen nur weiter
verstärkt wird. Solange das Netz  von Promis als uncooles Medium betrachtet
wird, ändere sich wenig. Selbst als Medium der Gegenöffentlichkeit wird das
Internet als problematisch eingestuft. Viele Aktivitisten schauen derzeit
weg vom Netz weil sie, trotz Indymedia, mit dem Chaos nicht klarkommen. Ist
daher Qualität nur in geschlossenen bzw. privaten Foren zu haben? Den Streit
wie offen/geschlossen die neue Öffentlichkeit sein sollte tobt noch und
viele Cyberaktivisten empfinden Abschottung als Verlust. Infofiltern wird
die hohe Kunst des einundzwanzigsten Jahrhundert.

Warum aber suchen Leute, sowohl von linker als rechter Seite, eine
Bestätigung der These, offene Systeme generieren letzten Endes eh nur
Rauschen? Florian Cramer zählt eine Vielzahl von Gründen auf. "Interessanten
Leute kommunizieren sowieso bilingual, sind auf englischsprachigen Listen
zuhause und haben an regionalen, nationalsprachlichen Foren nur einen
nachgeordneten Bedarf. Gerade weil die international Foren, im Vergleich
etwa zu Print-Publikationen, tolerant gegenüber nichtperfektem Englisch
sind, machen sie nationalsprachliche Diskurse zweitrangig und somit
potentiell auch zweitklassig." Laut Cramer hält sich die Professorenschaft
von den Niederungen öffentlicher Mailinglisten aus Standes-, aber auch aus
Zeitgründen fern. Kommt hinzu, daß in Deutschland (und Europa) ein recht
reges System akademischer Konferenzen existiert, das nicht wie in den USA
oder England durch horrende Teilnahmegebühren abgeschottet ist.

Cramer weist darauf hin, das die akademischen Medienwissenschaften in
Deutschland in den letzten zehn Jahren paradoxerweise immer
vergangenheitsbezogener geworden sind. Das Paradigma des 'Mediums' wird
dabei retrospektiv auf alle möglichen historische Kulturphänomene projiziert
projeziert. Dies führe dazu, dass die Medientheoretiker sich nur selten mit
der komplexen Gegenwart beschäftigen und sich stattdessen in die sichere
Vergangenheit zurückziehen. Die Nachteile der Medienarcheologie für die
Gegenwart ist sind derzeit kein Thema. Die poststrukturelle Obsession mit
der Vergangenheit hat zum intellektuellen Aussteigertum geführt. Dieser
Trend vermische sich mit altmodischen Publikationsritualen. Nach wie vor
werden inflationär viele Dissertationen, Zeitschriften, Editionen und
Sammelbände mit öffentlichen Subventionen produziert, aber ihre
Vertriebsrechte unbegreiflicherweise exklusiv-und auch noch zum Nulltarif-an
Buchverlage abgetreten. Cramer glaubt dass es hier schlicht um ein
Generationsproblem dreht und es noch dauern wird, bis deutsche
Intellektuelle selbstverständlich und technisch kompetent per Internet
kommunizieren. Falls sie erwachen, finden sie ein verwandeltes Medium vor-in
welcher Richtung, das wird derzeit bestimmt.

(Herzlichen Dank an Soenke Zehle für die notwendige Sprachkorrektur)


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