geert lovink on Tue, 3 Jun 2003 23:28:10 +0200 (CEST) |
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[rohrpost] Christoph Spehr: Das Leben nach dem Tod in der Matrix |
Christoph Spehr: Das Leben nach dem Tod in der Matrix Cyberpunk im Kino "While alive be a dead man, thoroughly dead, and act as you will and all is good." Bunan, Zen-Meister des 17.Jahrhunderts "Sie haben mich einmal gefragt", sagte O'Brien, "was in Zimmer 101 wäre. Ich sagte, Sie wüssten die Antwort bereits. Jedermann weiß sie. Was einen in Zimmer 101 erwartet, ist das Schlimmste auf der Welt ... Das Schlimmste auf der Welt ist individuell verschieden. Es kann lebendig begraben sein ... oder fünfzig andere Todesarten. Es gibt Fälle, in denen es eine ganz nichtssagende, nicht einmal todbringende Sache ist." Für Winston, den Rebellen wider Willen in Georg Orwells 1984, sind es Ratten. Aber 101 ist auch die Zimmernummer des Appartments eines gewissen Thomas Anderson, der an seinem Computer einschläft auf der Suche nach der Frage, "Was ist die Matrix" - jenes Thomas Anderson, der noch nicht weiß, dass er Neo ist, "the One", die Schlüsselfigur im Kampf gegen die Maschinen und ihre Agenten. Für Thomas Anderson ist das Schlimmste auf der Welt die Scheinexistenz seines bürgerlichen Daseins. Es ist die quälende Ungewissheit, dass "mit der Welt etwas nicht in Ordnung ist", dass die wirkliche Welt eine andere ist, zu der er den Zugang nur erahnen, aber nichts selbst finden kann. Deshalb nimmt er die rote Pille, als Morpheus in wählen lässt: diejenige, die ihm schockhaft die Wirklichkeit zeigt und ihn aus der Matrix befreit, um ihn in der "Wüste der Realität" ankommen zu lassen. Alles beginnt damit, dass er das Zimmer 101 verlässt - dem Ort einer Existenz, von der er spürt, dass das unmöglich alles sein kann, die ihm selbst jedoch keinen Ausgang weist. Zufall? Eher nicht. Zumindest einer der unzähligen Punkte, an denen Millionen von Menschen weltweit rätseln, welche der Bedeutungsspuren in Matrix absichtlich gelegt sind und welche nur der eigenen Vorstellungskraft entspringen. Das Handbuch zur Matrix Die eigentliche Pflichtlektüre der Wachowski-Brüder aber dürfte "Neuromancer" von William Gibson gewesen sein. "Neuromancer" war der erste Roman des Cyberpunk, der aufsehenerregendsten Richtung in der Science-Fiction der achtziger und neunziger Jahre. Der Roman spielt in einem zukünftigen Los Angeles, in dem die Katastrophe einfach darin besteht, dass es so weitergegangen ist: die Umwelt ist ruiniert, die Politik vergessen, die Welt wird von einer Handvoll multinationaler Konzerne kontrolliert. Das weltumspannende Datennetz, in dem die Konzerne ihr kostbarstes Kapital horten - Informationen -, ist zu einem Ort geworden, wo Spionage und Verbrechen stattfinden, Diebstahl und sogar Mord. Denn die Welt der Daten wird nicht mehr auf zweidimensionalen Monitoren visualisiert, sondern als ein dreidimensionaler, virtueller Raum, der direkt auf den Sehnerv projeziert wird, indem man sich ein Elektroden-Set auf die Schläfen setzt. Derart "eingesteckt" (jacked in - der Begriff, der auch in "Matrix" verwendet wird), bewegt man sich in der Welt der Daten - dem Cyberspace, oder, wie er auch genannt wird in "Neuromancer", in der Matrix. Die Matrix in "Neuromancer" ist eine relativ abstrakte Welt, in der Firmen und Institutionen als Gebäude simuliert sind, zwischen denen Daten als bunte Pakete fliegen, in der Sicherheitsprogramme von Virenprogrammen angegriffen werden, die wie Gewitterwolken aussehen, und in der die teuersten Daten von Anti-Viren-Programmen umgeben sind, dem sogenannten "Eis". Die gefährlichste Art davon, "schwarzes Eis", verfolgt den Hacker, der einen Daten-Raub oder auch nur ein unbefugtes Eindringen versucht, bis zu seinem Computerdeck zurück und tötet ihn durch einen elektronischen Schock durch die Elektroden an seinen Schläfen. Der Held der Geschichte, Case, ist im Verlauf des Romans mehrmals für Sekunden oder gar Minuten hirntot - während andere hilflos um ihn herumstehen und warten, ob er "zurückkommt" - wie Trinity, als Neo von den Agenten getötet wird und "aufersteht". Case, der Ur-Neo, ist ein Hacker, ein "Consolen-Cowboy", wie es in Neuromancer heißt, hochqualifiziert aber vergleichsweise naiv, was seine soziale Erfahrung und seine Auffassung von der Welt anlangt. Seine Partnerin, Molly, ist eine Auftragskillerin - das Auffallendste an ihr sind die verspiegelten Gläser einer Sonnenbrille, die fest in ihrem Gesicht implementiert sind; sie beherrscht diverse fernöstliche Kampftechniken und besitzt biotechnologisch aufgebesserte Reflexe. Die Figur des Morpheus in "Matrix" zieht zwei Figuren aus "Neuromancer" in sich zusammen. Die eine ist der Raumkapitän Maelcum mit seiner zusammengezimmerten "Macus Garvey" und seiner spirituellen Philosophie, der einen "Horror vor Kontrolle" hat. Die andere ist der "Finne", eine Art Hacker-Vaterfigur für Case, der nach seinem Tod als ein "Konstrukt" in der Matrix weiterlebt und Case deren Funktionieren erklärt. Maelcum gehört zu den "Zionisten", die das "Babylon" Los Angeles verlassen haben und eine Raumkolonie namens "Zion" aufgebaut haben - Zion heißt denn auch in "Matrix" die verborgene Stadt der Rebellen. Aber die Ansammlung von liebevoll ausgesuchten Einzelheiten aus der Cyberpunk-Literatur macht noch keinen Cyberpunk-Film. Eigentlich gibt es fast gar keine Cyberpunkt-Filme. Vielleicht ist "Matrix" der einzige. "Ich will Zimmerservice!" 1973 drehte Rainer Werner Fassbinder "Welt am Draht" nach dem gleichnamigen Roman von Daniel F. Galouye. "Welt am Draht" entwickelt bereits das Motiv, unsere eigene Realität könnte nur eine Simulation sein - als Ausdruck einer entfremdeten Welt des Sozialen, wo die Menschen in einem gedächtnis- und beziehungslosen Alltag gehalten werden, der die Gewalt der Kontrolle schon längst nicht mehr bemerkt. Das Spiel mit der virtuellen Realität findet sich in so unterschiedlichen Filmen wie "Project Brainstorm", Oliver Stones TV-Dreiteiler "Wild Palms", bis hin zu Roland Emmerichs "Das 13. Stockwerk". All dies sind "Cyber"-Filme, aber keine Cyberpunk-Filme. Zum "Cyber"-Element muss eben auch das "Punk"-Element hinzutreten, obwohl diese Bezeichnung nicht ganz treffend ist. Die Charaktere der Cyberpunk-Romane sind zwar Outsider, aber es sind gefallene Insider: Menschen, die sich an der Grenze bewegen, für die erfolgreiche Anpassung und Integration greifbar nahe ist, die es aber nicht ganz schaffen; die dabei versagen, weil sie mental nicht damit klarkommen. Sie sind qualifiziert und dennoch marginalisiert. Sie haben nicht einfach Pech, sie hadern mit der Struktur des Sozialen, die ihnen angeboten wird. Sie sind zu naiv (wie Case) oder zu zynisch (wie Molly). Typisch ist auch die Entwicklung der Geschlechterrollen. In vielen Cyberpunk-Romanen wird die Realität von den Männern nur unzureichend bewältigt, während die Frauen eine realistischere Orientierung in der aus den Fugen geratenen Welt besitzen, in der Desillusionierung, Kooperation, Unauffälligkeit, "Deals" und das Vermeiden emotionaler Abhängigkeit zentrale Überlebensstrategien sind. Außerhalb Japans, wo das Subgenre spätestens seit "Ghost in the Shell" ein Standbein hat, gibt es sehr wenige Filme, die beide Elemente aufweisen und demzufolge als Cyberpunk-Filme in Frage kommen; sie sind keine Kassenerfolge und werden von der Kritik massiv unterschätzt. 1995 verfilmte der US-amerikanische Künstler Robert Longo die Novelle "Vernetzt" von William Gibson unter dem Titel "Johnny Mnemonic". Obwohl Longo damit die genialste Visualisierung der charakteristischen sozialen Konstellation des Cyberpunk gelungen ist - Keanu Reeves (!) im schwarzen Anzug auf einer Müllhalde, der über sein biographisches Scheitern zusammenbricht und, die Hände zum dunklen Himmel erhoben, schreit: "Ich will Zimmerservice!" -, fiel der Film völlig durch. Nicht viel besser erging es der italienischen Produktion "Nirvana" mit Christopher Lambert und Iain Softleys "Hackers" (1995), immerhin mit Angelina Jolie und Jonny Lee Miller in den Hauptrollen. Wenigstens Anerkennung, wurde Kathryn Bigelows "Strange Days" (ebenfalls von 1995) zuteil. Was "Matrix" von all diesen Filmen unterscheidet - außer, natürlich, der atemberaubenden Ästhetik und Tricktechnik -, ist die Nutzung zweier anderer, außerhalb des Cyberpunk stehender Motivtraditionen der Science-Fiction, durch die "Matrix" eine sensationelle Radikalisierung und Politisierung des Cyberpunk-Genres gelingt. Es sind dies das Motiv des Erwachens aus einer bislang als Realität geglaubten Traumwelt in eine erschreckende "wirkliche Welt", und das Motiv des Androiden, der fehlenden Identität. Die Multitude der Androiden Es ist vor allem Philipp K. Dick, der für das erste Motiv steht. In Dicks Roman "Irrgarten des Todes" erwachen die handelnden Figuren ganz am Ende aus der "Handlung", um sich an Bord eines Raumschiffes zu finden, das ziellos durch den Weltraum treibt. Auch "Mozart für Marsianer" zeigt die virtuelle Welt als Besänftigung der Menschen in einer lebensfeindlichen sozialen Wirklichkeit. Ridley Scotts Verfilmung von "Träumen Androiden von elektrischen Schafen?", der SF-Klassiker "Blade Runner", gehört deshalb nicht von ungefähr zu den ästhetischen und stilistischen Vorbildern von "Matrix". "Blade Runner" entwickelt auch das Motiv des Androiden, der als künstlicher Mensch, als Mensch-Maschine, die mit künstlichen Erinnerungen ausgestattet wird, gegen seine verordnete Minderwertigkeit rebelliert. Der "Blade Runner" Deckard, der Androiden jagt und entdeckt, dass er selbst einer ist, führt eine Existenz, deren soziale Rolle er trägt wie einen Anzug von der Stange. Das subversive Potenzial des Androiden-Motivs klingt auch am Schluss von Steven Soderberghs Neuverfilmung des Stanislav-Lem-Klassikers "Solaris" an. Chris Kelvin und seine Frau Rheya befinden sich wieder auf der Erde, und es gibt zwei Möglichkeiten der Deutung. Nach der "normalen", beruhigenden Deutung ist diese Szene nur eine Vision Kelvins in den Sekunden seines Todes, eine Nahtod-Halluzination. Die Szene lässt sich jedoch ebenfalls so deuten, dass Kelvin und Rheya von Solaris geschaffene Replikationen sind, Scheinwesen, deren biologische Originale beide tot sind, die jedoch gerade deshalb eine neue, unerkannte Existenz auf der Erde beginnen. Darin liegt die aufregendste Vision des Androiden-Motivs: in der bewussten Distanzierung von den nur scheinbaren sozialen Rollen und Existenzformen, dem "sozialen Tod", der die Möglichkeit vollständiger innerer Freiheit eröffnet. "Matrix" bindet diese beiden Motive mit der Cyberpunk-Tradition zusammen und schafft aus der Kombination eine Vision von ungeheurer Wucht und politischer Brisanz. Die gesamte alltägliche Realität wird als unwirklich erklärt; doch dieses Erwachen ist kein frustrierter Endpunkt, sondern der neue Ausgangspunkt für den Kampf gegen das System der Entfremdung, Manipulation und unsichtbaren Gewalt. Der Ort dieses Kampfes ist die Matrix selbst: die Erkenntnis der sozialen Rolle als Scheinidentität, als "virtuell", ermöglicht es, die Regeln "zu biegen und zu brechen" und das System zu bekämpfen; und die Hoffnung liegt darin, dass dies eine spezifisch humane Fähigkeit ist, der das System trotz seiner extremen Anhäufung von Machtmitteln in gewissem Sinn nichts entgegen zu setzen hat. Damit aber verlassen wir endgültig das Terrain des Cyberpunk und betreten das Terrain eines vieldiskutierten Buches, das sich mit politischer Theorie beschäftigt: "Empire" von Toni Negri und Michael Hardt. Es ist genau diese Vision, von der "Empire" handelt: das gesellschaftliche Herrschaftssystem ist total, es gibt kein "draußen"; gleichzeitig aber herrscht in ihm das allseitige Gefühl der Scheinhaftigkeit, der fehlenden Verwirklichung, der Unzugehörigkeit vor. Dies ist keine Angelegenheit eines empirisch benennbaren sozialen Subjekts mehr (einer "revolutionären Klasse" o.ä.), sondern ein allgemeiner Zustand, den sich die Gesamtheit der menschlichen "Multitude" teilt, die allesamt mehr oder minder hybride Androiden-Existenzen führen. Eine Alternative zur bestehenden Realität des Sozialen ist gleichermaßen unendlich fern und unendlich nah, unendlich ausgeschlossen und unendlich möglich. Es müssen nur genügend aufwachen. Literatur: Ingrid Lohmann, Cognitive Mapping im Cyberpunk. In: Mayerhofer/Spehr (Hg.), Out of this world! Science-Fiction, Politik & Utopie, Hamburg 2002. William Gibson: Die Neuromancer-Trilogie, Ausgabe in einem Band Willaim Gibson: Vernetzt. Erzählungen Bruce Sterling: Schismatrix John Shirley: Eclipse Antonio Negri und Michael Hardt: Empire. -- Christoph Spehr, Historiker, lebt in Bremen. Mitarbeiter der "alaska - Zeitschrift für Internationalismus". Organisiert vom 27.-29.6.2003 zum dritten Mal den Kongress "Out of this world - Science-Fiction, Politik, Utopie" in Bremen (www.outofthisworld.de). Veröffentlichungen: Die Aliens sind unter uns! Herrschaft und Befreiung im demokratischen Zeitalter, München 1999; Gleicher als andere. Eine Grundlegung der freien Kooperation, Berlin 2003.
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