Henning Ziegler on Wed, 4 Jun 2003 09:02:53 +0200 (CEST) |
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Re: [rohrpost] Christoph Spehr: Das Leben nach dem Tod in der Matrix |
Hallo, gl> Verwirklichung, der Unzugehörigkeit vor. Dies ist keine Angelegenheit gl> eines empirisch benennbaren sozialen Subjekts mehr (einer "revolutionären gl> Klasse" o.ä.), sondern ein allgemeiner Zustand, den sich die Gesamtheit gl> der menschlichen "Multitude" teilt, die allesamt mehr oder minder hybride gl> Androiden-Existenzen führen. Eine Alternative zur bestehenden Realität des gl> Sozialen ist gleichermaßen unendlich fern und unendlich nah, unendlich gl> ausgeschlossen und unendlich möglich. Es müssen nur genügend aufwachen. Sich einerseits von der Theorie eines "empirisch benennbaren sozialen Subjekts" (einer revolutionären Klasse oder Klasse überhaupt) verabzuschieden, andererseits bei einer Art 'false consciousness' zu bleiben ("Wir müssen sie nur alle erwecken"), ist ein seltsamer Mix von Marx mit US-amerikanischem 'Middleclassism', in den man alle möglichen Ideen stecken kann (irgendwer hat hier mal gesagt, "Empire" könne sich nicht von rechtsradikalem Aktivismus abgrenzen). Henning -- http://www.henningziegler.de http://www.fotomat.org Neue Artikel: http://www.dichtung-digital.org/2003/issue/1/ziegler/ http://www.nmediac.net/summer2002/hackers.html Nachricht vom Dienstag, 3. Juni 2003 --> gl> Christoph Spehr: Das Leben nach dem Tod in der Matrix gl> Cyberpunk im Kino gl> "While alive be a dead man, gl> thoroughly dead, gl> and act as you will gl> and all is good." gl> Bunan, Zen-Meister des 17.Jahrhunderts gl> "Sie haben mich einmal gefragt", sagte O'Brien, "was in Zimmer 101 wäre. gl> Ich sagte, Sie wüssten die Antwort bereits. Jedermann weiß sie. Was einen gl> in Zimmer 101 erwartet, ist das Schlimmste auf der Welt ... Das Schlimmste gl> auf der Welt ist individuell verschieden. Es kann lebendig begraben sein gl> ... oder fünfzig andere Todesarten. Es gibt Fälle, in denen es eine ganz gl> nichtssagende, nicht einmal todbringende Sache ist." Für Winston, den gl> Rebellen wider Willen in Georg Orwells 1984, sind es Ratten. Aber 101 ist gl> auch die Zimmernummer des Appartments eines gewissen Thomas Anderson, der gl> an seinem Computer einschläft auf der Suche nach der Frage, "Was ist die gl> Matrix" - jenes Thomas Anderson, der noch nicht weiß, dass er Neo ist, gl> "the One", die Schlüsselfigur im Kampf gegen die Maschinen und ihre gl> Agenten. Für Thomas Anderson ist das Schlimmste auf der Welt die gl> Scheinexistenz seines bürgerlichen Daseins. Es ist die quälende gl> Ungewissheit, dass "mit der Welt etwas nicht in Ordnung ist", dass die gl> wirkliche Welt eine andere ist, zu der er den Zugang nur erahnen, aber gl> nichts selbst finden kann. Deshalb nimmt er die rote Pille, als Morpheus gl> in wählen lässt: diejenige, die ihm schockhaft die Wirklichkeit zeigt und gl> ihn aus der Matrix befreit, um ihn in der "Wüste der Realität" ankommen zu gl> lassen. Alles beginnt damit, dass er das Zimmer 101 verlässt - dem Ort gl> einer Existenz, von der er spürt, dass das unmöglich alles sein kann, die gl> ihm selbst jedoch keinen Ausgang weist. Zufall? Eher nicht. Zumindest gl> einer der unzähligen Punkte, an denen Millionen von Menschen weltweit gl> rätseln, welche der Bedeutungsspuren in Matrix absichtlich gelegt sind und gl> welche nur der eigenen Vorstellungskraft entspringen. gl> Das Handbuch zur Matrix gl> Die eigentliche Pflichtlektüre der Wachowski-Brüder aber dürfte gl> "Neuromancer" von William Gibson gewesen sein. "Neuromancer" war der erste gl> Roman des Cyberpunk, der aufsehenerregendsten Richtung in der gl> Science-Fiction der achtziger und neunziger Jahre. Der Roman spielt in gl> einem zukünftigen Los Angeles, in dem die Katastrophe einfach darin gl> besteht, dass es so weitergegangen ist: die Umwelt ist ruiniert, die gl> Politik vergessen, die Welt wird von einer Handvoll multinationaler gl> Konzerne kontrolliert. Das weltumspannende Datennetz, in dem die Konzerne gl> ihr kostbarstes Kapital horten - Informationen -, ist zu einem Ort gl> geworden, wo Spionage und Verbrechen stattfinden, Diebstahl und sogar gl> Mord. Denn die Welt der Daten wird nicht mehr auf zweidimensionalen gl> Monitoren visualisiert, sondern als ein dreidimensionaler, virtueller gl> Raum, der direkt auf den Sehnerv projeziert wird, indem man sich ein gl> Elektroden-Set auf die Schläfen setzt. Derart "eingesteckt" (jacked in - gl> der Begriff, der auch in "Matrix" verwendet wird), bewegt man sich in der gl> Welt der Daten - dem Cyberspace, oder, wie er auch genannt wird in gl> "Neuromancer", in der Matrix. Die Matrix in "Neuromancer" ist eine relativ gl> abstrakte Welt, in der Firmen und Institutionen als Gebäude simuliert gl> sind, zwischen denen Daten als bunte Pakete fliegen, in der gl> Sicherheitsprogramme von Virenprogrammen angegriffen werden, die wie gl> Gewitterwolken aussehen, und in der die teuersten Daten von gl> Anti-Viren-Programmen umgeben sind, dem sogenannten "Eis". Die gl> gefährlichste Art davon, "schwarzes Eis", verfolgt den Hacker, der einen gl> Daten-Raub oder auch nur ein unbefugtes Eindringen versucht, bis zu seinem gl> Computerdeck zurück und tötet ihn durch einen elektronischen Schock durch gl> die Elektroden an seinen Schläfen. Der Held der Geschichte, Case, ist im gl> Verlauf des Romans mehrmals für Sekunden oder gar Minuten hirntot - gl> während andere hilflos um ihn herumstehen und warten, ob er gl> "zurückkommt" - wie Trinity, als Neo von den Agenten getötet wird und gl> "aufersteht". gl> Case, der Ur-Neo, ist ein Hacker, ein "Consolen-Cowboy", wie es in gl> Neuromancer heißt, hochqualifiziert aber vergleichsweise naiv, was seine gl> soziale Erfahrung und seine Auffassung von der Welt anlangt. Seine gl> Partnerin, Molly, ist eine Auftragskillerin - das Auffallendste an ihr gl> sind die verspiegelten Gläser einer Sonnenbrille, die fest in ihrem gl> Gesicht implementiert sind; sie beherrscht diverse fernöstliche gl> Kampftechniken und besitzt biotechnologisch aufgebesserte Reflexe. Die gl> Figur des Morpheus in "Matrix" zieht zwei Figuren aus "Neuromancer" in gl> sich zusammen. Die eine ist der Raumkapitän Maelcum mit seiner gl> zusammengezimmerten "Macus Garvey" und seiner spirituellen Philosophie, gl> der einen "Horror vor Kontrolle" hat. Die andere ist der "Finne", eine Art gl> Hacker-Vaterfigur für Case, der nach seinem Tod als ein "Konstrukt" in der gl> Matrix weiterlebt und Case deren Funktionieren erklärt. Maelcum gehört zu gl> den "Zionisten", die das "Babylon" Los Angeles verlassen haben und eine gl> Raumkolonie namens "Zion" aufgebaut haben - Zion heißt denn auch in gl> "Matrix" die verborgene Stadt der Rebellen. gl> Aber die Ansammlung von liebevoll ausgesuchten Einzelheiten aus der gl> Cyberpunk-Literatur macht noch keinen Cyberpunk-Film. Eigentlich gibt es gl> fast gar keine Cyberpunkt-Filme. Vielleicht ist "Matrix" der einzige. gl> "Ich will Zimmerservice!" gl> 1973 drehte Rainer Werner Fassbinder "Welt am Draht" nach dem gl> gleichnamigen Roman von Daniel F. Galouye. "Welt am Draht" entwickelt gl> bereits das Motiv, unsere eigene Realität könnte nur eine Simulation gl> sein - als Ausdruck einer entfremdeten Welt des Sozialen, wo die Menschen gl> in einem gedächtnis- und beziehungslosen Alltag gehalten werden, der die gl> Gewalt der Kontrolle schon längst nicht mehr bemerkt. Das Spiel mit der gl> virtuellen Realität findet sich in so unterschiedlichen Filmen wie gl> "Project Brainstorm", Oliver Stones TV-Dreiteiler "Wild Palms", bis hin zu gl> Roland Emmerichs "Das 13. Stockwerk". All dies sind "Cyber"-Filme, aber gl> keine Cyberpunk-Filme. gl> Zum "Cyber"-Element muss eben auch das "Punk"-Element hinzutreten, obwohl gl> diese Bezeichnung nicht ganz treffend ist. Die Charaktere der gl> Cyberpunk-Romane sind zwar Outsider, aber es sind gefallene Insider: gl> Menschen, die sich an der Grenze bewegen, für die erfolgreiche Anpassung gl> und Integration greifbar nahe ist, die es aber nicht ganz schaffen; die gl> dabei versagen, weil sie mental nicht damit klarkommen. Sie sind gl> qualifiziert und dennoch marginalisiert. Sie haben nicht einfach Pech, sie gl> hadern mit der Struktur des Sozialen, die ihnen angeboten wird. Sie sind gl> zu naiv (wie Case) oder zu zynisch (wie Molly). Typisch ist auch die gl> Entwicklung der Geschlechterrollen. In vielen Cyberpunk-Romanen wird die gl> Realität von den Männern nur unzureichend bewältigt, während die Frauen gl> eine realistischere Orientierung in der aus den Fugen geratenen Welt gl> besitzen, in der Desillusionierung, Kooperation, Unauffälligkeit, "Deals" gl> und das Vermeiden emotionaler Abhängigkeit zentrale Überlebensstrategien gl> sind. gl> Außerhalb Japans, wo das Subgenre spätestens seit "Ghost in the Shell" ein gl> Standbein hat, gibt es sehr wenige Filme, die beide Elemente aufweisen und gl> demzufolge als Cyberpunk-Filme in Frage kommen; sie sind keine gl> Kassenerfolge und werden von der Kritik massiv unterschätzt. 1995 gl> verfilmte der US-amerikanische Künstler Robert Longo die Novelle gl> "Vernetzt" von William Gibson unter dem Titel "Johnny Mnemonic". Obwohl gl> Longo damit die genialste Visualisierung der charakteristischen sozialen gl> Konstellation des Cyberpunk gelungen ist - Keanu Reeves (!) im schwarzen gl> Anzug auf einer Müllhalde, der über sein biographisches Scheitern gl> zusammenbricht und, die Hände zum dunklen Himmel erhoben, schreit: "Ich gl> will Zimmerservice!" -, fiel der Film völlig durch. Nicht viel besser gl> erging es der italienischen Produktion "Nirvana" mit Christopher Lambert gl> und Iain Softleys "Hackers" (1995), immerhin mit Angelina Jolie und Jonny gl> Lee Miller in den Hauptrollen. Wenigstens Anerkennung, wurde Kathryn gl> Bigelows "Strange Days" (ebenfalls von 1995) zuteil. gl> Was "Matrix" von all diesen Filmen unterscheidet - außer, natürlich, der gl> atemberaubenden Ästhetik und Tricktechnik -, ist die Nutzung zweier gl> anderer, außerhalb des Cyberpunk stehender Motivtraditionen der gl> Science-Fiction, durch die "Matrix" eine sensationelle Radikalisierung und gl> Politisierung des Cyberpunk-Genres gelingt. Es sind dies das Motiv des gl> Erwachens aus einer bislang als Realität geglaubten Traumwelt in eine gl> erschreckende "wirkliche Welt", und das Motiv des Androiden, der fehlenden gl> Identität. gl> Die Multitude der Androiden gl> Es ist vor allem Philipp K. Dick, der für das erste Motiv steht. In Dicks gl> Roman "Irrgarten des Todes" erwachen die handelnden Figuren ganz am Ende gl> aus der "Handlung", um sich an Bord eines Raumschiffes zu finden, das gl> ziellos durch den Weltraum treibt. Auch "Mozart für Marsianer" zeigt die gl> virtuelle Welt als Besänftigung der Menschen in einer lebensfeindlichen gl> sozialen Wirklichkeit. Ridley Scotts Verfilmung von "Träumen Androiden von gl> elektrischen Schafen?", der SF-Klassiker "Blade Runner", gehört deshalb gl> nicht von ungefähr zu den ästhetischen und stilistischen Vorbildern von gl> "Matrix". "Blade Runner" entwickelt auch das Motiv des Androiden, der als gl> künstlicher Mensch, als Mensch-Maschine, die mit künstlichen Erinnerungen gl> ausgestattet wird, gegen seine verordnete Minderwertigkeit rebelliert. Der gl> "Blade Runner" Deckard, der Androiden jagt und entdeckt, dass er selbst gl> einer ist, führt eine Existenz, deren soziale Rolle er trägt wie einen gl> Anzug von der Stange. gl> Das subversive Potenzial des Androiden-Motivs klingt auch am Schluss von gl> Steven Soderberghs Neuverfilmung des Stanislav-Lem-Klassikers "Solaris" gl> an. Chris Kelvin und seine Frau Rheya befinden sich wieder auf der Erde, gl> und es gibt zwei Möglichkeiten der Deutung. Nach der "normalen", gl> beruhigenden Deutung ist diese Szene nur eine Vision Kelvins in den gl> Sekunden seines Todes, eine Nahtod-Halluzination. Die Szene lässt sich gl> jedoch ebenfalls so deuten, dass Kelvin und Rheya von Solaris geschaffene gl> Replikationen sind, Scheinwesen, deren biologische Originale beide tot gl> sind, die jedoch gerade deshalb eine neue, unerkannte Existenz auf der gl> Erde beginnen. Darin liegt die aufregendste Vision des Androiden-Motivs: gl> in der bewussten Distanzierung von den nur scheinbaren sozialen Rollen und gl> Existenzformen, dem "sozialen Tod", der die Möglichkeit vollständiger gl> innerer Freiheit eröffnet. gl> "Matrix" bindet diese beiden Motive mit der Cyberpunk-Tradition zusammen gl> und schafft aus der Kombination eine Vision von ungeheurer Wucht und gl> politischer Brisanz. Die gesamte alltägliche Realität wird als unwirklich gl> erklärt; doch dieses Erwachen ist kein frustrierter Endpunkt, sondern der gl> neue Ausgangspunkt für den Kampf gegen das System der Entfremdung, gl> Manipulation und unsichtbaren Gewalt. Der Ort dieses Kampfes ist die gl> Matrix selbst: die Erkenntnis der sozialen Rolle als Scheinidentität, als gl> "virtuell", ermöglicht es, die Regeln "zu biegen und zu brechen" und das gl> System zu bekämpfen; und die Hoffnung liegt darin, dass dies eine gl> spezifisch humane Fähigkeit ist, der das System trotz seiner extremen gl> Anhäufung von Machtmitteln in gewissem Sinn nichts entgegen zu setzen hat. gl> Damit aber verlassen wir endgültig das Terrain des Cyberpunk und betreten gl> das Terrain eines vieldiskutierten Buches, das sich mit politischer gl> Theorie beschäftigt: "Empire" von Toni Negri und Michael Hardt. Es ist gl> genau diese Vision, von der "Empire" handelt: das gesellschaftliche gl> Herrschaftssystem ist total, es gibt kein "draußen"; gleichzeitig aber gl> herrscht in ihm das allseitige Gefühl der Scheinhaftigkeit, der fehlenden gl> Verwirklichung, der Unzugehörigkeit vor. Dies ist keine Angelegenheit gl> eines empirisch benennbaren sozialen Subjekts mehr (einer "revolutionären gl> Klasse" o.ä.), sondern ein allgemeiner Zustand, den sich die Gesamtheit gl> der menschlichen "Multitude" teilt, die allesamt mehr oder minder hybride gl> Androiden-Existenzen führen. Eine Alternative zur bestehenden Realität des gl> Sozialen ist gleichermaßen unendlich fern und unendlich nah, unendlich gl> ausgeschlossen und unendlich möglich. Es müssen nur genügend aufwachen. gl> Literatur: gl> Ingrid Lohmann, Cognitive Mapping im Cyberpunk. In: Mayerhofer/Spehr gl> (Hg.), Out of this world! Science-Fiction, Politik & Utopie, Hamburg 2002. gl> William Gibson: Die Neuromancer-Trilogie, Ausgabe in einem Band gl> Willaim Gibson: Vernetzt. Erzählungen gl> Bruce Sterling: Schismatrix gl> John Shirley: Eclipse gl> Antonio Negri und Michael Hardt: Empire. gl> -- gl> Christoph Spehr, Historiker, lebt in Bremen. Mitarbeiter der "alaska - gl> Zeitschrift für Internationalismus". Organisiert vom 27.-29.6.2003 zum gl> dritten Mal den Kongress "Out of this world - Science-Fiction, Politik, gl> Utopie" in Bremen (www.outofthisworld.de). Veröffentlichungen: Die Aliens gl> sind unter uns! Herrschaft und Befreiung im demokratischen Zeitalter, gl> München 1999; Gleicher als andere. Eine Grundlegung der freien gl> Kooperation, Berlin 2003.
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